Wandel durch strategische Interdependenzsteuerung
Wandel-durch-Handel sorgt weiterhin für weniger gewalttätig ausgetragene Konflikte. Jedoch müssen deutsche Institutionen in Zukunft Interdependenzen strategischer einsetzen.
Die internationale Ordnung im Ost-West-Konflikt von 1947 bis 1991 war davon gekennzeichnet, dass beide Blöcke strikt voneinander getrennt waren. Beide Seiten schreckten sich militärisch gegenseitig ab, ideologisch wurden strenge Grenzen gezogen, der wirtschaftliche Austausch war zu vernachlässigen. Beide Blöcke schufen jeweils ihre eigene Welt, aus der die andere ausgeschlossen war. Zwar wurden diese Abschottungen an verschiedenen Stellen porös, so dass Rüstungskontrollverträge und die KSZE-Schlussakte vereinbart werden konnten. Doch eine über Rüstungsverträge hinausgehende wechselseitige Verflechtung blieb aus. Selbst die seit den 1970-er Jahren einsetzende Einsicht in die weltweiten ökologischen Gefahren durch die Studien Die Grenzen des Wachstums und Global 2000 löste keine intensivere Verbindung aus.
Während die Beziehungen im Osten sehr hierarchisch auf die Sowjetunion ausgerichtet waren, entwickelten sich im Rest der Welt aufgrund der wirtschaftlichen Offenheit vielfältige gegenseitige Abhängigkeiten. Die Ölpreiskrisen der 1970-er Jahre hoben die damit verbundenen Gefahren zwar erstmals ins öffentliche Bewusstsein. Trotzdem waren die Vorteile des gegenseitigen Austauschs zu groß, als dass man diesen aufgeben wollte. Mit dem Konzept der Interdependenz (der gegenseitigen Abhängigkeit) wurden diese Veränderungen in den Beziehungen der Staaten außerhalb des Ostblocks zueinander beschrieben. Sie wurden immer intensiver und erfassten ab den 1990-er Jahren zunehmend nahezu die gesamte Welt. Die Staaten waren auf unterschiedliche Weisen – politisch, wirtschaftlich, sozial und ökologisch – miteinander verbunden. Die Globalisierung vernetzte die Welt.
» Das Konzept der Interdependenz ist auch zukünftig nützlich. Es wurde nur in Deutschland bisher unangemessen umgesetzt. «
Die Gefahren von Abhängigkeit
Interdependenz bleibt ein unverzichtbarer Ansatz, um die internationale Ordnung zu verstehen. Das gilt auch nach der Phase der liberalen Globalisierung, die nun bestenfalls in eine neue Ordnung der resilienten Globalisierung überführt wird, weil strategische Güter unter eigener Kontrolle produziert werden sollen. Es bleibt auch für Deutschland ein unentbehrliches Konzept, um Außenwirtschafts- und Außenpolitik zu planen. Dabei lösen nicht alle inter- und transnationalen Beziehungen gegenseitige Abhängigkeiten aus. Abhängigkeiten bestehen immer dann, wenn bei einem wechselseitigen Austausch die Veränderungen durch die eine Seite direkte Kosten für die andere Seite auslösen. Die Erhöhung von Energiepreisen durch die Einschränkung von Liefermengen ist ein aktuelles Beispiel dafür. Wenn auf der einen Seite die Preise erhöht und die Liefermengen reduziert werden, löst dies auf der anderen Seite höhere Kosten aus. Sinkt auch die Menge stark und ist die Energieversorgung nicht gesichert, ist der Staat verletzbar, wenn beispielsweise Industrieanlagen abgeschaltet werden müssen. Das gilt aber nur, wenn keine Alternativen (hier: Kohle, Atomstrom, Öl, Biogas etc.) zur Verfügung stehen. Ein Staat ist also verwundbar, wenn der andere, in der Interdependenz-Beziehung überlegene Akteur, seine Macht ausspielt.
» Ein Staat ist verwundbar, wenn der andere, in der Interdependenz-Beziehung überlegene Akteur, seine Macht ausspielt. «
Deutschland wurde im letzten Vierteljahrhundert von den Bundesregierungen Schröder und Merkel in viele solcher Abhängigkeiten geführt. Sicherheitspolitisch ist Deutschland von den USA abhängig, bei Energielieferungen von Russland, beim Handel von China und bei Mikrochips von Taiwan. Abhängigkeiten bestehen auch bei seltenen Erden, Magnesium und anderen Rohstoffen. Denn eine strategische Interdependenzpolitik hat Deutschland nicht verfolgt. Der Versuch Russlands mit dem Angriff auf die Ukraine die europäische Staatenordnung zu brechen, stellt jetzt schlagartig alle Ordnungsprinzipien auf den Prüfstand. Es erstaunt folglich nicht, dass in Deutschland nun das Konzept der Interdependenz als untauglich abgetan wird. Das Mantra „Wandel durch Handel ist gescheitert“ muss scheinbar jede Politikerin und jeder Politiker als Beweis vortragen, dass man die Fehler der Vergangenheit verstanden habe.
Nur stimmt das nicht. Das Konzept der Interdependenz ist auch zukünftig nützlich. Es wurde nur in Deutschland bisher unangemessen umgesetzt. Sowohl Staaten, die im Konflikt miteinander stehen, als auch Mitgliedstaaten von Allianzen müssen sich weiterhin auf gegenseitige Abhängigkeiten einlassen. Anders sind sie bei globalen Problemen nicht handlungsfähig. Das gilt besonders für Deutschland, das erstens in die EU integriert ist, zweitens zahlreichen internationalen Organisationen angehört und drittens seinen Wohlstand durch freien Handel und grenzüberschreitende Investitionen erwirtschaftet. De-Globalisierung, De-Internationalisierung und De-Transnationalisierung – also die Rückabwicklung internationaler Verflechtungen – liegen nicht im wirtschaftlichen und politischen Interesse Deutschlands. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob auch in Zukunft intensive Beziehungen zu anderen Staaten und Gesellschaften unterhalten werden – das wird zur Bewahrung der sozio-ökonomischen und politischen Ordnung erforderlich sein – sondern wie Interdependenzbeziehungen angelegt werden.
Kernpunkte:
- Interdependenzen sind weiterhin unverzichtbar, um die sozio-ökonomische und politische Ordnung zu bewahren.
- Auf nationaler Ebene müssen Institutionen strategisch Güter identifizieren und bestimmen, ab wann Verwundbarkeiten zu groß werden.
- Den Aufbau asymmetrischer Beziehungen sollte Deutschland dringend vermeiden – es sei denn sie sind zum eigenen Vorteil.
Für eine strategische Interdependenzpolitik
Interdependenzbeziehungen verbinden Politikbereiche beziehungsweise Branchen sowie Staaten und Unternehmen – und zwar alle miteinander. Eine auf Diversifizierung angelegte strategische Interdependenzpolitik kann entsprechend Handlungsalternativen ausbilden. Zum Beispiel wäre es möglich und klug gewesen, unterschiedliche Energieträger aus unterschiedlichen Ländern zu importieren, um die Abhängigkeit von einem Produkt (Gas) und einem Land (Russland) zu vermeiden. Verantwortliche Staats- und Unternehmensführungen müssen dies beachten. Einfach gesagt: Man begibt sich weder hinsichtlich des Produkts noch des Lieferanten in Abhängigkeit. Das wäre für Unternehmen und Staaten durch aktive Planung zu bewältigen, wird aber häufig nicht getan.
Um strategische Interdependenzpolitik zu betreiben, müssen deshalb innerhalb von Staaten Institutionen mit der Aufgabe betraut werden, branchen- und akteursbezogen die gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Beziehungen zu überblicken. Diese sollten strategische Güter identifizieren und einen Schwellenwert ansetzen, ab dem eine Verwundbarkeit aufgrund von zu großer Abhängigkeit eintritt. Dann ist entsprechend gegenzusteuern, indem die wirtschaftlichen Abhängigkeiten reduziert und die Lieferquellen und Produkte diversifiziert werden. So können die Interdependenzen, die aufgrund sachlicher und politischer Umstände häufig die Tendenz haben, stark asymmetrisch aufzutreten, in eine stärker balancierte Form überführt werden. Das Ziel lautet, asymmetrische Beziehungen zu eigenen Gunsten aufzubauen, wenigstens aber stark asymmetrische Beziehungen zum eigenen Nachteil und die daraus resultierende Verwundbarkeit zu vermeiden. Damit wird das Management der Interdependenz zu einem wichtigen Argument in der innenpolitischen Entscheidungsfindung, wie beispielsweise bei Energieimporten. Gefragt wird dann, ob bestimmte Maßnahmen ergriffen oder unterlassen werden müssen, um Verwundbarkeiten zu vermeiden. Dies war in der Diskussion um die Energiewende vor 2022 kein ausschlaggebendes Argument.
Ein solches Monitoring hätte die Abhängigkeit von Energielieferungen Russlands offengelegt, denn angeblich hatte dies im Bundeskanzleramt niemand auf dem Schirm. Ebenso wäre die Abhängigkeit von US-amerikanischen Sicherheitsleistungen deutlich geworden. Außer man glaubte denen, die meinten, dass es in Europa im 21. Jahrhundert keine zwischenstaatlichen Kriege mehr gebe, was sich als überoptimistische Annahme erwiesen hat. Auch die derzeit diskutierte Loslösung vom 245-Milliarden Handelsvolumen mit China sowie die Abhängigkeit einiger DAX-Unternehmen vom chinesischen Absatzmarkt wäre viel früher bewusst und gegensteuerndem Handeln zugänglich gewesen.
» Das Ziel lautet, asymmetrische Beziehungen zu eigenen Gunsten aufzubauen, wenigstens aber stark asymmetrische Beziehungen zum eigenen Nachteil und die daraus resultierende Verwundbarkeit zu vermeiden. «
Aus Fehlern lernen und Interdependenzen endlich aktiv managen
Warum ist die Bundesregierung in den letzten Jahren nicht strategisch vorgegangen? Erstens war niemand gesamtstaatlich zuständig, zweitens hatte man sich an die eingefahrenen Wege gewöhnt und drittens muss sich immer rechtfertigen, wer etwas ändern will. Individuelles Nicht-Zuständigkeitsempfinden ist ebenfalls eine Ursache für dieses Defizit. Jedenfalls mangelte es an einem institutionalisierten Umgang mit den Abhängigkeiten Deutschlands, sowohl in Bezug auf die Gesamtheit der internationalen Beziehungen als auch die Im- und Exporte. Statt einer graduellen Anpassung der Politik, indem Interdependenzbeziehungen kontinuierlich erfasst werden, führte die Vernachlässigung dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger jetzt den Schaden tragen müssen.
Wenn die Beziehungen zu anderen Staaten balanciert oder zum eigenen Vorteil ausgestaltet sind, können die Konzepte des Wandels-durch-Annäherung oder des Wandels-durch-Handel interdependenz-strategisch und politisch wirksam eingesetzt werden. Starke demokratische Staaten und Gesellschaften brauchen die Annäherung an andere Staaten nicht zu scheuen. Im Gegenteil. Eine wertegeleitete Innen- und Wirtschaftspolitik, sowie Freiheit, Sicherheit und Wohlstand sind anziehend wie ein Magnet. Nach der globalen Finanzkrise 2008/09 und während der Covid19-Pandemie dachte die autoritäre Vormacht China, sie biete die effektiveren politischen Lösungen. Doch das Blatt hat sich inzwischen gewendet. Nun müssen die Demokratien gesellschaftliche Lösungen liefern. Dabei können sie sich auch auf ausgeprägte Handelsbeziehungen einlassen. Ein intensiver Austausch erhöht zwar die Zahl möglicher Konfliktfelder, sorgt aber parallel dafür, dass Konflikte seltener gewalttätig ausgetragen werden, weil dies den wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten schadet. Dazu bedarf es neben eines Managements der Interdependenzbeziehungen, auch eine hinreichende Ausrüstung des eigenen Militärs. Strategische Interdependenzsteuerung sollte im Verbund mit anderen Konzepten – der Machtbalance, dem Aufbau internationaler Institutionen und offenen Märkten – zukünftig professionell umgesetzt werden.
Thomas Jäger
Universität zu Köln, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik.