Mit Net Assessment bereit für den strategischen Wettbewerb
Andrew Marshalls Büro im Pentagon als Vorbild: Um den strategischen Wettbewerb mit China und Russland zu bestehen, braucht die Bundesregierung eine Arbeitseinheit für Net Assessment.
Im Jahr 1973 fanden sich die USA in einer Position wieder, die durchaus der Deutschlands im Jahr 2022 ähnelt: Die Fehleinschätzung eines militärischen Gegners – Nordvietnam und der Vietcong – nagte am strategischen Selbstverständnis Washingtons. Eine Energiekrise, die ebenfalls aus einem Krieg – dem Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn – resultierte, führte zu Inflation und Rezession. Zweifel an den eigenen militärischen Fähigkeiten und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise erforderten es, Ressourcen von nun an klüger einzusetzen, um im strategischen Wettbewerb mit Moskau zu bestehen.
Heute ist Deutschland mit einem Krieg in sowjetischer Tradition in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, den Folgen des chaotischen Abzugs aus Afghanistan und den weltwirtschaftlichen Nachwehen der Coronapandemie konfrontiert – von Mali gar nicht erst angefangen. Die Nationale Sicherheitsstrategie sollte daher nicht nur Leitlinien für eine ganzheitliche Sicherheitspolitik präsentieren. Sie muss Instrumente entwickeln, die Deutschlands Strategiefähigkeit strukturell und nachhaltig auf ein neues Level heben.
Bessere Analysen durch Net Assessment
Ein Resultat der strategischen Krise Washingtons 1973 war die Schaffung eines Büros für Net Assessment innerhalb des Pentagons unter Leitung von Andrew Marshall. Die kleine Arbeitseinheit war damit beauftragt, Trends und Risiken im Wettbewerb mit der Sowjetunion zu analysieren. Ihre Aufgabe war es zudem auf Gelegenheiten hinzuweisen, um Amerikas komparative Vorteile möglichst effektiv und effizient auszuspielen. Dabei blickte es oft Jahrzehnte in die Zukunft.
Net Assessment als analytische Methode ist multidisziplinär, vergleichend, diagnostisch, vorausschauend und häufig iterativ. Es werden also mehrere, sich wiederholende Prozessschleifen durchlaufen, um Hypothesen und Schlussfolgerungen im Lichte neuer Erkenntnisse immer wieder zu überprüfen. Ihr liegen dabei drei Annahmen zur Natur strategischen Wettbewerbs zu Grunde: (1) Wettbewerb schließt Kooperation nicht aus, bedeutet aber auch nicht zwangsläufig Konflikt. (2) Akteure verhalten sich strategisch: Sie reagieren aufeinander und auf sich verändernde Umstände. Dabei können sie sich aber weder kompletter Informationen noch deckungsgleicher Realitätswahrnehmungen sicher sein. Und (3) sowohl materielle, als auch nicht-materielle Faktoren, wie strategische Kultur oder militärische Doktrinen, beeinflussen das Handeln der Akteure.
» Sowohl die NATO, als auch die britische Regierung bauen Net Assessment Kapazitäten aus beziehungsweise auf. Die Bundesregierung sollte die Nationale Sicherheitsstrategie als Anlass nehmen, diesen Weg ebenfalls einzuschlagen. «
Während des späten Kalten Kriegs konzentrierte sich Marshalls Team auf die amerikanischen und sowjetischen Nuklear- und Seestreitkräfte und das Kräfteverhältnis entlang der europäischen ‚Zentralfront‘. Ein früher Erfolg Marshalls war eine realistischere Schätzung von Moskaus Verteidigungsausgaben. Washingtons Ökonomen fürchteten bis dahin, dass die Sowjetunion Amerika wirtschaftlich ein‑, wenn nicht gar überholen würde. Marshalls Arbeit zu den sowjetischen Streitkräften kam jedoch zu einer anderen Einschätzung. Sie stellte die schlechte Qualität der sowjetischen Wehrpflichtigen, ihrer Ausbildung und Ausrüstung sowie das geringe Vertrauen, dass Vorgesetzte in ihre Untergebenen hatten, fest. All dies benachteiligte Moskau strukturell und strapazierte seine Machtressourcen langfristig sehr viel stärker als zunächst angenommen.
Mit Ronald Reagan, so Marshall rückblickend, befand sich ab 1981 jemand im Weißen Haus, der bereit war, sowjetische Schwächen durch gezielte Investitionen in militärische Schlüsseltechnologien und ‑fähigkeiten auszunutzen. So konnte die Führung im Kreml mit wachsenden Dilemmata in der Verteilung schrumpfender Ressourcen konfrontiert werden.
Kernpunkte:
- Die Bundesregierung braucht eine Arbeitseinheit für Net Assessment für den strategischen Wettbewerb mit China und Russland.
- Multidisziplinäre Net Assessment-Teams sollten sich in einer ‚zweiten Kammer‘ eines Nationalen Sicherheitsrats ressortübergreifend langfristigeren Trends und Herausforderungen widmen.
- Neben Net Assessment sind Analyseverfahren wie strategische Vorausschau, datengestützte Vorhersagen, Wargaming, Simulationen, Szenarien, Red Teaming sinnvoll.
Dem strategischen Wettbewerb mit neuen Strukturen begegnen
In Anbetracht des sich intensivierenden strategischen Wettbewerbs – ob man diesen nun als „Unfrieden“, „heißen Frieden“ oder einen „neuen Kalten Krieg“ bezeichnet – steigt das Interesse an Net Assessment. Sowohl die NATO, als auch die britische Regierung bauen entsprechende Kapazitäten aus beziehungsweise auf. Die Bundesregierung sollte die Nationale Sicherheitsstrategie als Anlass nehmen, diesen Weg ebenfalls einzuschlagen.
Anders als das US-Vorbild sollte eine solche Arbeitseinheit für Net Assessment aber nicht im Verteidigungsministerium angesiedelt sein. Stattdessen sollte sie sich als ‚zweite Kammer‘ eines Nationalen Sicherheitsrats im Kanzleramt ressortübergreifend den langfristigeren Trends und Herausforderungen widmen. Eine solche Institutionalisierung entspricht dem umfassenden Sicherheitsbegriff, der der Sicherheitsstrategie zu Grunde liegt und der Tatsache, dass sich Wettbewerb heute nicht allein oder auch nur primär auf militärische Variablen beschränkt.
Der strategische Wettbewerb mit China und Russland sollte dabei im Fokus stehen. Multidisziplinäre China- und Russland-Teams sollten den Net Assessment-Grundannahmen folgend Asymmetrien in den Beziehungen mit den beiden Ländern identifizieren und quantifizieren. Dabei kann abhängig vom Politikfeld Deutschland, die EU oder das transatlantische Bündnis der analytische Bezugspunkt sein. Über das militärische Kräfteverhältnis hinaus sollten Bereiche wie Technologie‑, Energie- und Klimapolitik Berücksichtigung finden. Gerade gegenüber China ist ein erweitertes Verständnis strategischen Wettbewerbs dringend geboten.
Für ihre Net Assessments sollte die Einheit auf unterschiedliche, sich ergänzende Analyseverfahren zurückgreifen. Strategische Vorausschau und datengestützte Vorhersagen finden an verschiedenen Stellen bereits Anwendung, auch wenn sie in politischen Entscheidungsfindungsprozessen ohne Zweifel noch stärker berücksichtigt werden sollten. Wenig systematisch genutzt werden hingegen nach wie vor Methoden wie Wargaming, Simulationen, Szenarien und Red Teaming. Dort wo sie zum Einsatz kommen, geht es stattdessen vor allem um die Vermittlung von Lehrinhalten. Jedoch können solche kontrollierbaren, weil künstlichen Umgebungen, genutzt werden, um Annahmen über Wirkungsketten zu testen und Handlungsoptionen zu evaluieren – auch über den Einsatz von Streitkräften hinaus.
» Eine Arbeitseinheit für Net Assessment sollte sich als ‚zweite Kammer‘ eines Nationalen Sicherheitsrats im Kanzleramt ressortübergreifend den langfristigeren Trends und Herausforderungen widmen. «
Auf Basis solcher Net Assessments würde die politische ‚erste Kammer‘ des Sicherheitsrates die Frage beantworten, wie mit den identifizierten und quantifizierten Asymmetrien umzugehen ist: Sollte Deutschland (mit Partnern und Alliierten) kompetitive Vorteile ausbauen? Nachteile abbauen? Oder sich, aufgrund der Erkenntnis, dass ein bestimmtes Feld für den weiteren strategischen Wettbewerb unbedeutend ist, diesem verweigern und Bemühungen des Wettbewerbers ins Leere laufen lassen?
Den strategischen Wettbewerb managen und bestehen
Eine „kompetitive Strategie“, um vorteilhafte Asymmetrien auszubauen beziehungsweise nachteilige zu verringern und damit das Kosten-Nutzen-Kalkül des Wettbewerbers zu beeinflussen, kann verschiedene Formen annehmen. Der Ausschluss Huaweis aus 5G-Netzen kann als Teil einer ‚denial‘-Strategie verstanden werden, die verhindern soll, dass es China gelingt, operative Mittel in politische Erfolge zu übersetzen. Das CO2-Grenzausgleichssystem der Europäischen Union wiederum folgt der Logik der ‚cost imposition‘: Durch die Auferlegung von Kosten wird dem Wettbewerber deutlich gemacht, dass Entgegenkommen die bessere Handlungsalternative ist. Weitere Ansätze zielen darauf ab, die Strategie oder gar das politische System des Wettbewerbers zu unterminieren. Die detaillierten Warnungen westlicher Geheimdienste zu Russlands Invasionsplänen Anfang 2022 dienen als Beispiel für ersteren. Russlands Unterstützung für anti-liberale und anti-demokratische Bewegungen und Parteien in Europa und anderswo für letzteren.
» Net Assessment und kompetitive Strategien können dabei helfen den langfristigen, strategischen Wettbewerb mit Beijing und Moskau zu managen und schlussendlich zu bestehen. «
Net Assessment und kompetitive Strategien können die Herausforderungen, die China und Russland für Deutschland, die EU, das transatlantische Bündnis und den politischen Westen darstellen nicht endgültig lösen. Ihr Beitrag ist bescheidener und realistischer: Sie können dabei helfen den langfristigen, strategischen Wettbewerb mit Beijing und Moskau zu managen und schlussendlich zu bestehen. Deshalb sollte die Nationale Sicherheitsstrategie sich nicht darin erschöpfen, die sicherheitspolitischen Ziele der gegenwärtigen Bundesregierung auszubuchstabieren. Sie sollte durch die Schaffung neuer Instrumente auch dazu beitragen, dass alle zukünftigen Bundesregierungen strategiefähiger sind.
Rafael Loss
Koordinator für paneuropäische Datenprojekte, European Council on Foreign Relations (ECFR)
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