Artikel von Philipp Rotmann

Schluss mit dem Autopiloten! Gute Krisenpolitik fährt nicht von allein

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ISAF-Einsatz bei schwierigen Straßenverhältnissen in Afghanistan. (Bundeswehr, Kazda/​Flickr)

In Krisen da draußen: Vorbeugen, Entschärfen, Helfen
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Wirksamere Stabilisierung und Friedensförderung erfordert die Priorisierung erfolgversprechender Fälle, mehr Mut zu Konfrontation und Blockaden im Apparat abzubauen. Das kostet Geld, doch sonst verpuffen die Millionen.

Nie hat Deutschland materiell und finanziell mehr in die Bewältigung internationaler Krisen investiert als seit dem 24. Februar 2022 – weder in Afghanistan noch in Mali. Das Ukraine-Engagement passt perfekt zum Kern der Logik von Krisenbewältigung und Stabilisierung: Der Westen hilft der Ukraine, ein klar definiertes Friedensziel zu erreichen – den Krieg zu gewinnen. Dieses Ziel tragen die ukrainische Regierung, ihre Bevölkerung und die westlichen Partner gemeinsam. Seine Erreichbarkeit ist zwar nicht gesichert. Sie ist aber plausibel, wenn der Westen weiter massiv hilft. 

Die Situation in der Ukraine unterscheidet sich natürlich im Ausmaß der Gewalt und Fragilität von vielen anderen Krisen. Doch auch Nigeria, Niger und dem Irak soll die deutsche Stabilisierungspolitik helfen, gegen extremistische Gruppen zu bestehen. Hier erfordert ein tragfähiger Frieden mehr politische Veränderung im Inneren als nur den effektiven Abwehrkampf. Das macht es schwerer. Mali und Afghanistan haben gezeigt, dass Stabilisierung nur dann gelingt, wenn eine kritische Masse der lokalen Kräfte zugunsten eines tragfähigen Gesellschaftsvertrages an einem Strang zieht.


» Kritische Debatte in der Vorbereitung der deutschen Sicherheitsstrategie: Fehlanzeige. «

— Philipp Rotmann

Es ist dieselbe Grundlogik, die in der Enquetekommission des Bundestages zu den Lehren aus 20 Jahren Afghanistan-Engagement zurecht grundsätzlich auf dem Prüfstand steht. Doch vor lauter Landes- und Bündnisverteidigung spielt sie in der Debatte um Deutschlands erste integrierte“ Sicherheitsstrategie so gar keine Rolle. Doch nach Afghanistan und Mali muss die Sicherheitsstrategie eine Antwort auf die berechtigten Zweifel geben, ob wir als Außenstehende den Frieden an weit entfernten Orten fördern können. Soldat:innen, Polizeibeamt:innen, Diplomat:innen und Entwicklungsexpert:innen sind gestorben, gefallen oder wurden verwundet. Ob es den Menschen vor Ort ohne die externe Intervention besser ginge, ist schwer zu sagen: Wie rechnet man die gewonnene Gesundheit, Schulbildung und Lebenschancen der Menschen vor Ort gegen die unbeabsichtigten Opfer westlicher Luftschläge auf? Was zählt die Möglichkeit für einen halbwegs selbstbestimmten Kampf um ein besseres Leben gegen das Leiden unter der Repression der Taliban?

Es steuert: Der Autopilot

Kritische Debatte in der Vorbereitung der deutschen Sicherheitsstrategie: Fehlanzeige. Stattdessen wird weitergemacht wie bisher. Nicht blind, sondern durchaus auf Grundlage einiger Lehren, die jedes Ministerium weitgehend für sich selbst gezogen hat, aber mangels öffentlichen Interesses kaum eine:r kritisch reflektiert. Die Apparate reagieren auf das weltweit wachsende Krisen- und Gewaltgeschehen. Deutschland und die EU haben ihre krisenbezogenen Investitionen weiter erhöht, auch wenn die personelle Beteiligung an Krisen- und Friedenseinsätzen immer weiter sinkt. Bei den präventiven Ausgaben ist Deutschland schon seit 2017 weltweit (!) ganz vorne.

Massive Ausgaben für die Ukraine kamen obendrauf, unter anderem ist der Ertüchtigungstitel auf mehrere Milliarden Euro gestiegen. Für 2022 zählt das Auswärtige Amt fast 600 Millionen Euro für die zivilen Mittel im engsten Sinne. Dazu kommen die Beiträge des Entwicklungs‑, Verteidigungs- und Innenministeriums, die schwerer exakt zu beziffern sind. 

Zum Scheitern verurteilt?

Wie weit trägt aber die Grundidee des integrierten Friedensengagements“, wie es das Auswärtige Amt in seinem neuesten Konzeptpapier von Ende Dezember 2022 nennt? Ist vor allem das spezifische Vorgehen in Afghanistan und Mali gescheitert oder der Versuch insgesamt, von außen bei der Bewältigung von Krise oder Krieg zu helfen? 

Für Afghanistan liegen die Gründe im Wesentlichen auf dem Tisch: kurzsichtige Deals mit Warlords auf Kosten des angeblich maßgeblichen Staatsaufbaus; die Gleichsetzung der brutalen, aber eben nur nationalrevolutionären Taliban mit dem globalen Terrornetzwerk Al-Qaida; zu viel (amerikanisches) Geld und zu wenig Kontrolle; unzureichende Analyse der Machtstrukturen und politischen Dynamiken im Land; ein Nebeneinander der Ressort- und sektoralen Logiken statt eines Engagements aus einem Guss; unflexible Instrumente und Risikoscheu an der falschen Stelle. Die Liste ist nicht vollständig, aber sie zeigt zumindest eins: Das internationale Afghanistan-Engagement war weit entfernt davon, dem heutigen Wissensstand zu den Erfolgsbedingungen eines integrierten Friedensengagements zu genügen. Das neue Papier des Auswärtigen Amtes bringt viele dieser Defizite in einem knappen Abschnitt zu Erfahrungen aus dem Engagement in Afghanistan“ erfreulich klar auf den Punkt. Es ist aber wieder mal nur ein Papier eines einzelnen Ressorts.

In Mali wurden die entscheidenden Weichen vor zehn Jahren gestellt, viele Fehler haben durchaus Ähnlichkeiten zu Afghanistan: Viel zu wenig Investitions- und militärische Risikobereitschaft genauso wie in der gescheiterten Frühphase des Afghanistan-Engagements; unzureichendes Verständnis der lokalen Machtstrukturen und kleinräumigen politischen Veränderungen in den entlegenen Regionen; die Blockade politischer Verhandlungen mit Terrorgruppen. Und vor allem eine politische Partnerschaft mit einer Regierungselite, die mit dem Status quo zufrieden war. So zufrieden, dass sie die enormen Kosten, Mühen und Risiken der Ausweitung ihrer Regierungsverantwortung auf das ganze Territorium Malis nie ernsthaft betrieben hat. Gleichzeitig konzentrierten sich ihre internationalen Partner zu lang nur auf den Norden. Auch hier eine unvollständige Liste und eine Reihe von Entscheidungen, die dem heutigen, weiterentwickelten Verständnis der Bundesregierung, der britischen, französischen oder US-Regierung widersprechen. An der Erkenntnis mangelt es also nicht.

Kernpunkte:

  1. Gezielte Investitionen in Personal und Strukturen auf der Basis von kleinräumigen und schnellen Analysen ermöglichen ein effektiveres und politischeres Krisenmanagement.
  2. Eine wirksamere Friedenspolitik sollte ihre begrenzten Ressourcen für solche Krisen bündeln, wo lokale Akteure den Konflikttreibenden aus eigener Kraft etwas entgegensetzen.
  3. Ohne ein deutliches Maß an Konfrontation der Partner und gezielter Konditionalität, ist tragfähige Stabilisierung nicht zu erreichen.
  4. Ministerien und Mitarbeitende vor Ort sollten detailliertes Kontextwissen verarbeiten und die Beziehungen zu lokalen Akteuren außerhalb der Hauptstadtblase pflegen.

Teilerfolge, Hoffnungsschimmer, Innovationen

Manche Erkenntnisse sind schon länger in der Praxis angekommen. Aus den Lehren der 1990er und 2000er Jahren in Afghanistan haben die USA, Deutschland, die EU und Großbritannien viele Bausteine der Krisenpolitik weiterentwickelt und angewendet. 

Im Irak hat die Welt zwar 2014 zunächst den Siegeszug der Terrormiliz Islamischer Staat verschlafen. Doch dann klappte sowohl die militärische Unterstützung der Regierung (durch die USA, nicht durch Deutschland) bei der Rückeroberung des Landes als auch (die von Deutschland maßgeblich konzipierte und finanzierte) Rückführung und Reintegration von Millionen Binnenvertriebenen recht ordentlich. Trotz einer fundamental gespaltenen politischen Elite und Bevölkerung sowie massiver Korruption, zu deren Überwindung das internationale Stabilisierungsengagement bisher kaum einen Beitrag leisten konnte. Die deutschen Hilfen wurden 2021/​22 erstmals gemeinsam im Auftrag dreier Ministerien evaluiert. Deren totverhandelte Rahmenbedingungen machten es den Evaluator:innen nicht leicht. Das Ergebnis hat qualitative Schwächen, aber immerhin: Es war positiv.

In Syrien wären die Oppositionsgebiete schon lange dem Assad-Regime zum Opfer gefallen, gäbe es nicht erhebliche Stabilisierungshilfen aus Europa und den USA. Und auch in Niger, Teilen Nigerias und der Tschadseeregion funktioniert die Hilfe bei der Bekämpfung islamistischer Terrorgruppen leidlich gut, trotz der enormen Hypothek postkolonialer Strukturen, massiver Armut und mangelnder Infrastruktur. Kleinräumigere, schnellere politische Analysen der Krisendynamiken schaffen die Grundlage für gezieltere und erfolgversprechendere Investitionen. Die können dadurch häufiger an die Veränderungen in der Krisendynamik angepasst werden und bleiben damit relevant und effektiv.

Deutschlands erste Strategie für integrierte Sicherheit

Derartige Fortschritte als Erfolge anzuerkennen ist der erste notwendige Schritt aus der deutschen Schweigespirale zwischen Kann ja nichts werden“ und bräsigem Weiter so“. Krieg endet selten auf einen Schlag, mit bedingungsloser Kapitulation vor der Übermacht der Siegermächte oder einem salomonischen Friedensvertrag, den alle Seiten gleichermaßen respektieren. Meistens ist der Weg aus der Gewalt lang und voller Rückschläge. Ohne Teilerfolge wie die genannten Beispiele zu würdigen, wäre völlig unklar, ob es voran geht oder nicht.


» Ohne Teilerfolge zu würdigen, wäre völlig unklar, ob es voran geht oder nicht. «

— Philipp Rotmann

Also, Teilerfolge anerkennen. Doch für Selbstzufriedenheit darf kein Platz sein in der ersten Sicherheitsstrategie Deutschlands. Das Risiko ist, dass dort in etwa sowas steht: Deutschland bekennt sich zu seiner Verantwortung, gemeinsam mit seinen Partnern im multilateralen System weiterhin angemessene Beiträge zur Förderung von Frieden und Sicherheit, für Krisenprävention, Stabilisierung, Friedensförderung und humanitäre Hilfe zu leisten. Diplomatische, entwicklungspolitische, polizeiliche und militärische Instrumente arbeiten dabei Hand in Hand. Es gilt der Primat der Politik und der Prävention. Wir arbeiten die Lehren aus Afghanistan auf und entwickeln unsere Instrumente ständig weiter.“ Die Botschaft wäre ein müdes Weiter so!“.

Voraussetzungen für ein politischeres Krisenengagement

Die ambitionierte Alternative würde im Kern das skalieren, was im Kleinen schon erfolgreich und vielversprechend ist. Allerdings würde sie auch eine deutliche Forderung an die Ministerien formulieren, mutiger und besser Blockaden abzubauen: in der Investitions- und Konfrontationsbereitschaft, in der Ressortzusammenarbeit und in der Priorisierung. 

Das sogenannte 1:1‑Prinzip des Koalitionsvertrages – für jeden neuen Verteidigungseuro ein ziviler Euro – wird sowieso revidiert, weil die nötigen Mehrausgaben für Verteidigung den Rahmen sprengen. Hier liegt eine Chance, mit gezielten Investitionen in Personal und Strukturen ein wirksameres, politischeres Krisenengagement zu ermöglichen und die dafür nötigen Veränderungen einzufordern. Drei Prinzipien sind dafür wichtig: auf Erfolgschancen setzen, eine Politik mit mehr Mut zu Konfrontation und Risiko verfolgen und eigene Blockaden einreißen.

Erstes Prinzip: Auf Erfolgschancen setzen

Wo immer möglich, muss eine wirksamere Friedenspolitik ihre begrenzten Ressourcen für solche Krisen bündeln, wo fähige lokale Akteure den Konflikttreibenden aus eigener Kraft etwas entgegensetzen. Hilfe von außen kann dann sogar das kriegsentscheidende Zünglein an der Waage sein. Fähige und geeinte Partner gibt es häufiger dort, wo der Krieg noch nicht ausgebrochen ist. Ein Grund mehr, Prävention weniger als Nebensache zu behandeln, sondern stärker zu priorisieren, nicht nur finanziell, sondern vor allem in Form politischen Engagements gegenüber einzelnen Ländern.

Priorisierung erfordert eine kritische Masse. Kleinstinvestitionen von außen können kaum relevante Wirkung entfalten. Meist investieren die größten Geber, auch Deutschland, in einem einzelnen krisenbedrohten Land weniger als eine Million Euro pro Jahr. In akuten Konflikten sind es um die 10 Millionen Euro. Um einen groben Maßstab zu bieten: Die humanitäre Notversorgung kostet ein Mehrfaches. Diese Gießkannenpolitik – in sehr vielen Ländern sehr wenig zu investieren – mag hilfreich scheinen, um Abstimmungen in den Vereinten Nationen zu gewinnen. Doch dieselben Regierungen in Afrika oder Asien, in deren Länder diese Mini-Portfolios fließen, beschweren sich zurecht über mangelndes europäisches Bemühen, erfolgversprechende Beiträge zur Bewältigung der Konflikte in ihrer Nachbarschaft zu leisten.


» Kleinstinvestitionen von außen können kaum relevante Wirkung entfalten. «

— Philipp Rotmann

Erst wenn wir bereit sind, die wenigen Situationen zu priorisieren, wo die Chancen am größten sind – das mögen in Europa die Ukraine, die Westbalkanstaaten und Berg-Karabach sein, in der Sahelkrise Niger und die westafrikanischen Küstenländer statt Mali – werden wir genug in die Waagschale werfen können, um einen Unterschied zu machen. Dieselbe Logik steht hinter dem US-amerikanischen Global Fragility Act, den die Biden-Administration derzeit versucht, in einer Handvoll Prioritätsländern umzusetzen, statt weltweit alles gleichzeitig zu machen.

Zweites Prinzip: Politik mit mehr Mut zu Konfrontation und Risiko verfolgen

Neben der stärkeren Priorisierung fehlt es allzu oft an mutiger politischer Führung. All die innovativen Instrumente und Teilerfolge im Irak oder Westafrika beziehen sich auf praktische Unterstützung einzelner Akteure und Prozesse. Das politische Ergebnis, also ob ihr Einsatz weniger Gewalt bewirkt, hängt von anderen ab: von den lokalen Regierungen und Eliten, von Regionalorganisationen oder Nachbarmächten, von den USA. Denn bisher haben deutsche Regierungen oder die EU in keinem Fall den Mut und die nötige politische wie finanzielle Investitionsbereitschaft aufgebracht, um eine umkämpfte politische Gemengelage im Sinne der gemeinsamen Interessen an Frieden und Stabilität zu beeinflussen. 

Eine solche Führungsrolle würde vor allem drei Dinge erfordern, vor denen die letzten Bundesregierungen zurückgeschreckt sind: Erstens die Bereitschaft zur klaren Parteinahme und zum nötigenfalls harten Umgang mit Partnern, die die gemeinsamen Interessen in katastrophaler Weise zu untergraben drohen – wie das zum Beispiel afghanische, irakische und malische Regierungen getan haben. Local Ownership haben die Partner nicht nur für die Lösung, sondern auch für zumindest Teile des Problems. Ohne ein deutliches Maß an Konfrontation und gezielter Konditionalität, ist tragfähige Stabilisierung und Friedensförderung nicht zu erreichen.

Zweitens die Bereitschaft zum Einsatz aller Instrumente staatlicher Macht, auch militärischer Gewalt. Das war der Unterschied zwischen dem entscheidenden US-Beitrag zum Überleben des Irak gegen den IS und dem symbolischen Beitrag der deutschen militärischen Ausbildungshilfe. Wer nicht bereit ist, auch die Risiken des Gewalteinsatzes mitzutragen – ob durch Waffenlieferungen, Informationen und Analyse zur Zielerfassung oder eigene Truppen – wird wenig Einfluss haben. Waffenhilfe darf aber nicht kurzsichtig erfolgen wie in Afghanistan die Deals mit Warlords, die kaum Akzeptanz in der Bevölkerung hatten. Für die Jagd auf Terrorgruppen rüstete sie vor allem die US-Regierung zu Vetospielern in der Politik des neuen Afghanistans auf. Anders im Irak 2014 – 17: Hier hätte nur schnellere, intensivere und effektivere Militärhilfe helfen können, die Rolle der schiitisch dominierten Milizen zu begrenzen, die auf dem Nährboden der schwachen offiziellen Sicherheitskräfte einen Staat im Staate geschaffen haben – heute eine Wurzel andauernder Gewalt.


» Wer nicht bereit ist, auch die Risiken des Gewalteinsatzes mitzutragen, wird wenig Einfluss haben. «

— Philipp Rotmann

Und drittens die Bereitschaft, Nein zu sagen. Nein zu sagen, wenn es keinen hinreichend plausiblen Weg zum Erfolg gibt, der die hohen Kosten einer derartigen Intervention rechtfertigen würde. Sich zurückzuziehen und eine Fehlinvestition‘ abzuschreiben, wenn eine ursprünglich erkennbare Erfolgschance geschwunden ist. International haben allzu viele Rückzüge in bestimmten Kategorien wie der Beteiligung an UN-Einsätzen erhebliche politische Kosten. Deshalb ist immer eine gute Balance zu finden, die nicht nur aus finanziellen und zivilen Mitteln bestehen kann. Doch gerade für präventives Engagement mangelt es nicht an plausiblen Projekten. Auch die jüngsten internationalen Bemühungen in den südlichen Küstenstaaten Westafrikas hätten noch mehr Erfolgsaussichten, wenn sie nicht erst heute begännen, sondern schon früher auf die seit Jahren bekannten Warnsignale reagiert hätten.

Drittes Prinzip: Eigene Blockaden einreißen

Damit wirksame Friedenspolitik klappen kann, gibt es im Apparat der Bundesregierung, der die angekündigte integrierte“ Sicherheit schaffen soll, zwei wichtige Blockaden einzureißen. Die eine ist die Überbetonung des Ressortprinzips, das zusammen mit der notwendigen Abgrenzung von Haushaltstiteln viele absurde Blüten treibt und ein effektives Engagement aus einem Guss praktisch nie möglich macht. 

Dem Auswärtigen Amt die kurz- und dem Entwicklungsressort die langfristigen Geldtöpfe zu geben, kann zum Beispiel erst dann ineinandergreifen, wenn beide Häuser gezwungen wären, stärker zusammenzuarbeiten. Außerdem sollten sie zumindest in der Sache an denselben Themen arbeiten dürfen, statt ständig Energie für die gegenseitige Abgrenzung zu verschwenden. Sicherheitssektorreform ist hierfür ein schönes Beispiel. Die Aufgabe liegt allein beim Auswärtigen Amt, das aber nur kurzfristig arbeiten darf – obwohl kein Sicherheitssektor in zwei oder drei Jahren zu reformieren ist. Und doch gibt es auf der Entwicklungsseite kein komplementäres langfristiges Instrument.

Auch im Zusammenspiel mit Finanz- und Justizbehörden sowie den Nachrichtendiensten gibt es massiven Nachholbedarf: Finanzströme, Lieferketten und persönliche Verbindungen bieten weitgehend ungenutzte Chancen. Denn manch ein Warlord oder Politiker aus einem Krisenland legt sein Geld in europäischen Immobilien an, lässt sich hier medizinisch behandeln oder macht Urlaub in den europäischen Metropolen. Das Design und die Umsetzung gezielter Sanktionen sowie die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechen könnten viel intensiver und wirksamer gestaltet werden.


» Im Zusammenspiel mit Finanz- und Justizbehörden sowie den Nachrichtendiensten gibt es massiven Nachholbedarf. «

— Philipp Rotmann

Die andere Blockade ist die Verarbeitung detaillierten Kontextwissens und der Beziehungspflege mit einer Vielzahl lokaler Akteure. Nicht nur in der Regierung, sondern auch in den oft vernachlässigten Sicherheitskräften und bei aller Art zivilgesellschaftlicher Akteure, religiösen und traditionellen Autoritäten, weit über die Hauptstadtblase hinaus. Erst dieses Verständnis schafft die Möglichkeit, Macht und Interessen der offiziellen Entscheider:innen, die der wichtigste Flaschenhals der Zusammenarbeit sind, besser einschätzen zu können.

Ein besseres Verständnis der Vielfalt vor Ort ist auch eine Grundvoraussetzung dafür, eine feministische Außenpolitik in die Praxis umzusetzen. Wer nur die (meist männerdominierten) Regierungen fragt und nicht über den üblichen Kreis der zivilgesellschaftlichen Akteure rund ums Botschaftsviertel hinaus auch ein Verständnis für die Vielfalt und die Konflikte innerhalb der Zivilgesellschaften in allen Landesteilen entwickelt, wird wenig erreichen für die Rechte, Ressourcen und Repräsentation benachteiligter Gruppen – oder eben für eine dauerhafte Befriedung von Konflikten.

Ein derart detailliertes Verständnis für eine Situation, die sich in von Gewalt zerrissenen Ländern von Ort zu Ort und Landstrich zu Landstrich unterscheidet, fehlte viele Jahre lang in Afghanistan und in Mali. Manches wussten Wissenschaftler:innen, die nicht gefragt wurden. Anderes haben Ministerien erst im achten, neunten, zehnten Jahr erhoben. Das Wissen aber haben sie nur unzureichend und zu spät genutzt, um fest etablierte Fehlannahmen und Strategielücken wirksam zu korrigieren.

Gerade das bessere, kleinräumigere und vielfältigere Verständnis der Lage vor Ort erfordert Zeit der Menschen, die dafür sorgen können – in den Botschaften und Konsulaten, den internationalen Friedens- und Beratungseinsätzen, den zuständigen Ministerien und in den deutschen Behörden, die für Strafverfolgung oder Sanktionen zuständig sind. Ohne einen langfristig angelegten, ehrgeizigen Ausbau der Personalbasis für ein effektives Krisenengagement drohen sich die Fehler der Vergangenheit nur zu wiederholen. 

Die Kehrseite der Priorisierung: Minimalpräsenz

Prioritäten schaffen Posterioritäten, also braucht es in aktuell weniger aussichtsreichen Krisen eine gezielte Form der Minimalpräsenz. Gezielt heißt: Wenn die lokalen politischen Kräfteverhältnisse oder das unzureichende Eigeninteresse keine Erfolgsaussichten bieten, dann sollte das Ziel nicht sein, irgendwie trotzdem ein bisschen an einem Teil des riesigen Konfliktknäuels im Land zu arbeiten. Sondern ehrlich zu sein und auf besseres politisches Wetter zu warten.

Das muss nicht heißen, gar nichts zu tun. Wenn wir interessiert genug sind, um bei plötzlichen Veränderungen wie dem Sturz des Bashir-Regimes im Sudan 2019 warmstartfähig‘ zu sein, ist ein breites Verständnis der Lage und vielfältige Gesprächskanäle vonnöten. Das erfordert Zugänge zu vielen Teilen der Zivilgesellschaft, deren überschaubare, aber aufgefächerte Finanzierung Priorität sein sollte. Welche Akteure dazu über welchen Kanal und in welcher Form gefördert werden – institutionell oder individuell, direkt von der Bundesregierung, politische Stiftungen oder spezialisierte internationale Akteure – muss für jedes Land kontextabhängig entschieden werden, auch mit Blick auf die Sicherheit der Akteur:innen vor Ort.


» Ein deutsches Stabilisierungsengagement, das durch noch gezieltere und politisch ehrlichere Priorisierung größere Wirkung erzielen kann. «

— Philipp Rotmann

Mehr Erfolg braucht Investment und Veränderung

Sowohl die Menschen in den Krisenländern als auch die Menschen, die die Risiken und Entbehrungen der Arbeit in Krisenregionen auf sich nehmen und nicht zuletzt deutsche Steuerzahler:innen verdienen eine ehrgeizige Umsetzung der klugen Lehren aus Afghanistan und den vielen anderen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte. Kein bräsiges Weiter so“, sondern ein robustes Bekenntnis zur Weiterentwicklung eines zwar unumstrittenen, aber bei weitem nicht perfekten Instrumentariums. Ein deutsches Stabilisierungsengagement, das durch noch gezieltere und politisch ehrlichere Priorisierung größere Wirkung erzielen kann. Dem Anspruch des integrierten Arbeitens wird die Bundesregierung nicht allein mit einem – übrigens sehr klugen – Stabilisierungskonzept eines Ressorts gerecht. Dazu braucht es auch integrierte Strukturen und die nötigen Investitionen darin.

Eine solches Bekenntnis und die nötigen Veränderungen zu vermeiden, wäre eine Entscheidung gegen den Ehrgeiz für höhere Wirkung oder häufigere Erfolge. Die Folgen wären weiter rasant wachsendes Leid und dementsprechend weiter explodierende Kosten der humanitären Nothilfe – Jahr für Jahr. Denn Nothilfe allein schafft keinen Frieden.


Philipp Rotmann

Direktor, Global Public Policy Institute (GPPi)

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