Wanted: Klare Leitlinien für die zukünftige Sicherheitsordnung in Europa
Photo: Folco Masi /Unsplash
Der russische Angriff auf die Ukraine hat gezeigt, dass es eine kooperative Sicherheitspolitik gegenüber Moskau nicht mehr geben kann. Die Sicherheitsstrategie muss neue Realitäten reflektieren – und die deutsche Gesellschaft auf die Kosten einstimmen.
Kernpunkte:
- Eine kooperative Sicherheitspolitik gegenüber Moskau ist nicht mehr möglich.
- Die NATO muss eine robuste militärische Präsenz an der Nord- und Ostflanke zeigen.
- Die drei wichtigsten Ziele für die Nationale Sicherheitsstrategie: die Schwächung Russlands, die westliche Integration der Ukraine sowie militärische Verteidigung und Abschreckung.
Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung, der Ende 2021 beschlossen wurde, haben die Regierungsparteien angekündigt, eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie entwickeln zu wollen. Diese soll von einem erweiterten Sicherheitsverständnis geleitet werden. Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine ist allerdings der traditionelle Sicherheitsbegriff wieder in den Vordergrund gerückt. Welche Konsequenzen wird Deutschland aus dem in der Ukraine tobenden Krieg für die eigene Außen- und Sicherheitspolitik ziehen? Und wie sollten die europäische Sicherheitsordnung und die Politik gegenüber Russland und der Ukraine in den kommenden Jahren gestaltet werden? Die Antworten auf diese Fragen, die Deutschland in der Nationalen Sicherheitsstrategie festschreibt, werden in Ostmitteleuropa genau analysiert werden.
Die Realität annehmen, wie sie ist
Die europäische Sicherheitsordnung, wie sie nach dem Ende des Kalten Krieges entstand, ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine endgültig vorbei. Russland hat alle Grundprinzipien dieser Ordnung gebrochen oder aktiv unterminiert – das Gewaltverbot, die Unversehrtheit der Grenzen, die Bewahrung der territorialen Integrität, die souveräne Gleichheit der Staaten, das Recht auf freie Bündniswahl. Diese Grundpfeiler sind nicht nur in der UN-Charta, sondern auch in der Schlussakte von Helsinki von 1975 sowie in der Charta von Paris von 1990 verankert. Alle diese Verträge hat Moskau unterschrieben. Ein Zurück zu einer kooperativen Sicherheitspolitik gegenüber Russland, die auf wechselseitigen Vereinbarungen basiert, kann es in Europa in der vorhersehbaren Zukunft vorerst nicht mehr geben. Das heutige Russland ist eine revisionistische und imperialistische Macht, die alle Mittel, inklusive militärische, brutal anwendet, um seine politischen Ziele zu erreichen.
Diese Ziele gehen dabei über die Ukraine hinaus. Sie sind nachzulesen in zwei Vertragsentwürfen, die im Dezember 2021 vom russischen Außenministerium veröffentlicht wurden. Russland geht es nicht nur um die Unterordnung der postsowjetischen Staaten, sondern auch darum, eine Pufferzone mit eingeschränkter Souveränität in Ostmittel- und Nordeuropa zu schaffen. Und letztendlich strebt Moskau an, die Vereinigten Staaten politisch und militärisch vom europäischen Kontinent zu verdrängen. Ohne den nuklearen Schutzschirm der USA wird Europa für Russland erpressbarer sein.
Ja, das sind weitreichende Ziele, die für Moskau aus westlicher Perspektive kaum zu erreichen scheinen. Was wirklich zählt ist allerdings die russische Wahrnehmung der internationalen Verhältnisse. Moskau sieht den Westen nach wie vor als schwach und gespalten an. Trotz der insgesamt vereinten Haltung des Westens seit der Invasion und der gemeinsamen Hilfe für Kiew rechnet Moskau damit, dass die westliche Sanktionspolitik und die politische, finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine sowohl in den USA als auch in Europa mit den zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten bröckeln werden. Russlands Ziele sind dabei trotz des anfangs misslungenen Verlaufs des Krieges nach wie vor dieselben. Das russische Regime ist weiterhin willens, seine imperiale Agenda mit aller Macht durchzusetzen. Selbst eine NATO-Mitgliedschaft der baltischen Staaten und Polens ist keine hundertprozentige Garantie gegen die düstersten Szenarien – denn ein weiteres Ziel Moskaus ist es, die NATO systematisch zu untergraben und letztlich ihre Abschaffung herbeizuführen.
» Die europäische Sicherheitsordnung, wie sie nach dem Ende des Kalten Krieges entstand, ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine endgültig vorbei. «
Das Unvorstellbare vorstellen
An der NATO-Ostflanke – in Polen und im Baltikum – versteht man daher glasklar, dass dieser Krieg die Sicherheitslage der Staaten Nord- und Mittelosteuropas fundamental geändert hat. Russland unter Putin wird in den kommenden Jahren eine Gefahr für den Frieden und die Selbstbestimmung in Europa bleiben. Wenn Moskau politisch, wirtschaftlich und militärisch nicht wesentlich geschwächt wird, bedeutet das auch künftig Krieg in Europa. Einerseits wird das Kämpfen in der Ukraine weitergehen – Russland wird sich nicht mit begrenzenden Vereinbarungen mit Kiew zufriedengeben, sondern will sich langfristig die gesamte Ukraine unterordnen. Und Moskau wird auch bereit sein, einen Krieg gegen die Staaten an der Ostflanke zu führen, wenn es eine günstige Gelegenheit sieht, die eigenen Ziele zu erreichen.
Letzteres Szenario klingt für viele nach wie vor unvorstellbar, so wie es der frontale Angriffskrieg gegen die Ukraine vor kurzem noch war. Es genügt jedoch, die offiziellen Dokumente der russischen Regierung zu lesen oder sich die durch die russischen Massenmedien verbreiteten staatlichen Narrative anzuhören, um festzustellen, dass dies keineswegs eine Abstraktion ist. Es geht nicht nur um die Weltanschauung Putins. Sein Revanchismus ist in weiten Teilen der russischen Elite verankert – und durch die seit Jahren betriebene Propaganda auch in Teilen der Bevölkerung.
Drei strategische Ziele für die Nationale Sicherheitsstrategie
Wie also sollte Deutschland diese Herausforderung in seiner Nationalen Sicherheitsstrategie angehen?
Erstens muss Russland wesentlich geschwächt werden. Moskau sollte aus diesem Krieg militärisch, politisch und wirtschaftlich geschlagen hervorgehen und in den kommenden Jahren weitgehend isoliert bleiben. Weitreichender politischer Wandel in Russland sollte ebenso ein Ziel westlicher und deutscher Politik sein. Das bedeutet nicht, dass der Westen sich in einen direkten Krieg gegen Russland begeben sollte. Die westliche Staatengemeinschaft hat genug Instrumente, um Russland auch ohne eine militärische Auseinandersetzung dauerhaft zu schwächen – beispielsweise indem sie das Sanktionsregime aufrecht erhält, Russland politisch isoliert oder die demokratische Opposition außerhalb des Landes unterstützt.
Es sollte keinesfalls ein Zurück zu den falschen Grundsätzen geben, die die deutsche Russlandpolitik in den letzten Jahrzehnten geleitet haben: Wandel durch Handel, Modernisierung und ökonomische Verflechtung, europäische Sicherheit nur mit und nicht gegen Russland, Diplomatie und Dialog als einzige Instrumente gegen Krisen und Krieg.
Zweitens: Die Ukraine (und perspektivisch auch Moldau und Georgien) sollten in die westliche Staatengemeinschaft integriert werden. Nur die Einbindung dieser Staaten in die euro-atlantischen Strukturen kann langfristig den Frieden in Osteuropa garantieren. Falls dies nicht passiert – und diese Länder in einer vermeintlichen Pufferzone zwischen dem Westen und Russland verbleiben – werden es Deutschland, die NATO und die EU in Zukunft mit permanenten Krisen und Krieg in ihrer östlichen Nachbarschaft zu tun haben. Nochmals: Russland betrachtet diese Länder als sein Eigentum. Wenn wir diese Haltung de facto gestatten, wird unsere Politik als schwach und nachgiebig verstanden werden – und Moskau wird die nächste Aggression womöglich gegen die Ostflanke der NATO richten.
Umgekehrt kann ein erfolgreicher Weg der Ukraine (und Moldaus und Georgiens) in den Westen auch der russischen Bevölkerung eine Alternative für ein post-imperiales Russland aufzeigen. Die westliche Integration dieser Länder ist für einen echten politischen Wandel in Russland unverzichtbar. Ohne diesen Wandel wird es wiederum keinen langfristigen Frieden in Europa geben.
Drittens werden wir uns in den kommenden Jahren wieder auf Verteidigung und Abschreckung in Europa konzentrieren müssen. Die amerikanische Militärpräsenz auf dem Kontinent und die NATO als Plattform für kollektive Verteidigung werden dabei unverzichtbar bleiben. Die EU kann hier eine unterstützende Rolle spielen – mit mehr Investitionen in die militärische Mobilität, Infrastruktur oder den Erwerb von Fähigkeiten. Auch Investitionen in die Bundeswehr sind unabdingbar. Das Zwei-Prozent-Ziel, nach dem zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die militärische Verteidigung fließen sollen, muss in Deutschland nicht nur in den kommenden Jahren sondern darüber hinaus garantiert werden. Einerseits ist eine robuste militärische Präsenz der Alliierten an der Nord- und Ostflanke notwendig, um Russland zu zeigen, dass es sich nicht lohnt, militärische Mittel gegen die NATO einzusetzen. Andererseits bedarf es in ganz Europa Investitionen in den Aufbau staatlicher und gesellschaftlicher Resilienz gegen den russischen Einsatz nicht-militärischer Instrumente. Dazu gehören eine aktive Bekämpfung der russischen Desinformations- und Einflussoperationen sowie der russischen Unterwanderung extrem-rechter und extrem-linker Organisationen.
Diese Maßnahmen werden uns in Europa viel kosten und insgesamt viel abverlangen. Ein Anspruch der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands sollte deshalb auch sein, die deutsche Gesellschaft auf diese Kosten einzustimmen.
» Es sollte keinesfalls ein Zurück zu den falschen Grundsätzen geben, die die deutsche Russlandpolitik in den letzten Jahrzehnten geleitet haben: Wandel durch Handel, Modernisierung und ökonomische Verflechtung, europäische Sicherheit nur mit und nicht gegen Russland, Diplomatie und Dialog als einzige Instrumente gegen Krisen und Krieg. «
Umgekehrt kann ein erfolgreicher Weg der Ukraine (und Moldaus und Georgiens) in den Westen auch der russischen Bevölkerung eine Alternative für ein post-imperiales Russland aufzeigen. Die westliche Integration dieser Länder ist für einen echten politischen Wandel in Russland unverzichtbar. Ohne diesen Wandel wird es wiederum keinen langfristigen Frieden in Europa geben.
Drittens werden wir uns in den kommenden Jahren wieder auf Verteidigung und Abschreckung in Europa konzentrieren müssen. Die amerikanische Militärpräsenz auf dem Kontinent und die NATO als Plattform für kollektive Verteidigung werden dabei unverzichtbar bleiben. Die EU kann hier eine unterstützende Rolle spielen – mit mehr Investitionen in die militärische Mobilität, Infrastruktur oder den Erwerb von Fähigkeiten. Auch Investitionen in die Bundeswehr sind unabdingbar. Das Zwei-Prozent-Ziel, nach dem zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die militärische Verteidigung fließen sollen, muss in Deutschland nicht nur in den kommenden Jahren sondern darüber hinaus garantiert werden. Einerseits ist eine robuste militärische Präsenz der Alliierten an der Nord- und Ostflanke notwendig, um Russland zu zeigen, dass es sich nicht lohnt, militärische Mittel gegen die NATO einzusetzen. Andererseits bedarf es in ganz Europa Investitionen in den Aufbau staatlicher und gesellschaftlicher Resilienz gegen den russischen Einsatz nicht-militärischer Instrumente. Dazu gehören eine aktive Bekämpfung der russischen Desinformations- und Einflussoperationen sowie der russischen Unterwanderung extrem-rechter und extrem-linker Organisationen.
Diese Maßnahmen werden uns in Europa viel kosten und insgesamt viel abverlangen. Ein Anspruch der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands sollte deshalb auch sein, die deutsche Gesellschaft auf diese Kosten einzustimmen.
Justyna Gotkowska
Koordinatorin des Projektes „Sicherheit und Verteidigung in Nordeuropa“, Zentrum für Oststudien (OSW)
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