Wir müssen die Bewährungsprobe für die Zivilisierung der internationalen Beziehungen bestehen
Die OECD-Unterzeichnungszeremonie für die multilaterale Konvention (BEPS) im Juni 2017. (Julien Daniel /OECD, Flickr)
Um der Renaissance der Gewaltpolitik entgegenzutreten, muss sich die deutsche Außenpolitik überzeugend für einen effektiven Multilateralismus einsetzen.
Leben wir seit dem 24. Februar wirklich in einer anderen Welt? Eher ist es wohl so, dass die deutsche Außenpolitik sich bis zu dieser Zeitenwende nicht hinreichend darüber im Klaren war, dass Macht- und Gewaltpolitik seit der Jahrtausendwende wieder auf dem Vormarsch sind. Es war der Krieg in Tschetschenien, der Wladimir Putin im Jahr 2000 ins Präsidentenamt im Kreml hievte. Es war die amerikanische Besetzung Afghanistans 2001 und insbesondere des Irak 2003, ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die die Weltordnung von 1989 schwer erschütterten. Der Iran, Saudi-Arabien, Russland, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate führten und führen Kriege mit ihren eigenen Streitkräften, ihren Söldnern und ihren lokalen Verbündeten, die sie aufrüsten und finanzieren, etwa in Syrien, in Libyen, im Jemen. China schafft seit 2010 mit militärischen Drohungen einseitig Fakten im Südchinesischen Meer — auf dem Rücken der Anrainerstaaten und unter Bruch des Völkerrechts. Und der russische Krieg gegen die Ukraine begann nicht am 24. Februar 2022, sondern bereits 2014 mit der Besetzung der Krim und dem Schüren von Sezessionsbewegungen in der Ostukraine. Moskau hat den Krieg seither lediglich dramatisch ausgeweitet.
Es stimmt aber: Der russische Überfall der Ukraine hat der europäischen Sicherheitsarchitektur von 1989 einen schweren Schlag versetzt. Sie ist jedoch nicht zerstört. Zerstört sind viel mehr die Grundlagen einer kooperativen Sicherheitsordnung in Europa. Zumindest bis auf weiteres, solange Wladimir Putin an der Macht bleibt. Viele Teilelemente dieser Ordnung aber bleiben bestehen. Die Europäische Union und die NATO funktionieren weiterhin, die NATO erfuhr sogar eine deutliche Aufwertung. Auch die G7, in denen die USA und Kanada mit Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und der EU sowie mit Japan zusammenarbeiten, hat an Bedeutung gewonnen. Sie sollte um Südkorea, Australien und Neuseeland erweitert werden, um die Geschlossenheit der liberalen westlichen Demokratien in der Auseinandersetzung um die Zukunft der Weltordnung noch effektiver zur Geltung zu bringen.
Drei Hindernisse für die Zivilisierung der internationalen Beziehungen
Der Ausgang dieses Ringens um die Zukunft der Weltpolitik ist offen. Das Projekt einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen ist (noch) nicht gescheitert, es steht aber vor einer großen Bewährungsprobe. Dieses Projekt ist faktisch ohne Alternative für eine gedeihliche Zukunft der Menschheit. Denn die weltweiten wechselseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen zwischen den Gesellschaften sind nicht mehr zurückzudrehen. Die großen planetarischen Herausforderungen dieser globalisierten Welt lassen sich deshalb nur kooperativ bewältigen. Zivilisierung der internationalen Beziehungen bedeutet, diese Abhängigkeiten anzuerkennen und daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Einseitige Macht- und Gewaltpolitik müssen durch effektive Regelwerke auf der Grundlage freier Beteiligung und gemeinsamer Prinzipien ersetzt werden, in deren Mittelpunkt die Würde des Menschen steht. Die Charta der Vereinten Nationen und ihre Menschenrechtskonventionen bildeten große Schritte in diese Richtung. Doch das Tabu der Gewaltpolitik und das Engagement für Menschenrechte, die die UN zu errichten suchten, zerbröckeln. Sie müssen deshalb neu errichtet und bekräftigt werden. Heute mag das utopisch erscheinen — doch die Zeiten ändern sich.
» Das Projekt einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen ist (noch) nicht gescheitert, es steht aber vor einer großen Bewährungsprobe. «
Die drei wichtigsten Hindernisse auf dem langen Weg zur Realisierung dieses Projektes sind: a) die Bereitschaft etlicher Staaten, darunter wichtige Groß- und Mittelmächte, einseitig Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen, b) Nationalismus, religiöser Fundamentalismus und andere kollektivistische Ideologien sowie c) die Fetischisierung der nationalstaatlichen Souveränität.
Die Renaissance der Gewaltpolitik hat ihre Wurzeln in den inneren Ordnungen der Staaten. Die Gewaltbereitschaft in den internationalen Beziehungen entspringt der Bereitschaft autoritärer beziehungsweise totalitärer Machthaber, ihre Ziele nach innen wie nach außen ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Das augenscheinlichste Beispiel hierfür liefert Russland unter Wladimir Putin, aber auch andere Länder und Machthaber — wie etwa die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan oder Saudi-Arabien unter Mohammed bin Salman.
Der Nationalismus ist noch immer die wirkmächtigste aller modernen Ideologien. Er schürt Hass auf andere, mobilisiert Emotionen und setzt in Menschen Kräfte und Energien frei,ass Hass die bis zur Selbstaufopferung gehen. Russland und China demonstrieren, wie sich diese Kräfte durch entsprechende Manipulationen des Erziehungssystems und der (sozialen) Medien systematisch erzeugen und instrumentalisieren lassen. Aber auch andere kollektivistische Ideologien wie religiöser Fundamentalismus sind gefährliche gesellschaftliche Massenphänomene, die sich politisch manipulieren lassen. Die zerstörerischen Konsequenzen des islamischen Fundamentalismus lassen sich heute wieder in Afghanistan unter den Taliban beobachten. Syrien und der Irak erlebten sie unter dem Islamischen Staat.
Die Verabsolutierung der Idee der Souveränität steht in Zusammenhang mit dem Nationalismus, denn auch hier geht es um Kollektive. Hier sind Kollektive die Angehörigen eines Gemeinwesens (des Nationalstaates), die als Nation Vorrang in der Politik des Staates erhalten. Souveränität ist (als Volkssouveränität) ein Prinzip der Selbstbestimmung und als solches für eine demokratische Ordnung unverzichtbar. Sie kann und muss allerdings so verstanden und ausgeübt werden, dass sie mit den Gegebenheiten der globalen Verflechtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten in Einklang steht. Ein solches Verständnis von Souveränität meint keine absolute Souveränität mehr. Vielmehr befähigt es Autonomie, die Fähigkeit also, die eigene Zukunft zu gestalten. Da dies häufig nicht mehr allein durch nationale Schritte erreicht werden kann, sondern nur noch im Zusammenwirken mit anderen, bedeutet Souveränität nicht mehr Alleinbestimmung, sondern Mitbestimmung. Souveränitätsverzicht kann so mit einem Gewinn an Autonomie einhergehen — eine Logik, die die Grundlage der europäischen Integration bildet.
Überzeugung, Verteidigung, Abschreckung und Souveränitätsverzicht
Wie kann, wie sollte die deutsche Außenpolitik mit diesen Hindernissen umgehen? Vier wichtige Stichworte hierzu und einige Erläuterungen: Überzeugung, Verteidigung, Abschreckung und Souveränitätsverzicht im Tausch gegen Effektivitätsgewinne.
Überzeugungsfähigkeit: Die deutsche Außenpolitik sollte unermüdlich die Risiken der Gewaltpolitik aufzeigen und die Gefahren deutlich machen, die mit unzureichender internationaler Zusammenarbeit und einer schwachen Weltordnung verbunden sind. Diese Risiken bestehen auch für diejenigen, die einseitig Gewalt anwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Diplomatie sollte das überzeugend vermitteln. Überzeugungsfähigkeit erfordert aber auch kritische Selbstreflexion und das Vorangehen mit gutem Beispiel.
» Die deutsche Außenpolitik sollte unermüdlich die Risiken der Gewaltpolitik aufzeigen und die Gefahren deutlich machen, die mit unzureichender internationaler Zusammenarbeit und einer schwachen Weltordnung verbunden sind. «
Verteidigungsfähigkeit: Überzeugungsarbeit wird allerdings immer wieder auf taube Ohren stoßen, gleichviel wie stichhaltig die Argumente sind. Machthaber wie Wladimir Putin oder Xi Jinping sehen Gewalt als probates Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele — nicht zuletzt, weil sie dieser Bereitschaft ihre eigene Machtposition verdanken. Überzeugungsarbeit muss deshalb Hand in Hand mit robuster Verteidigungsfähigkeit gehen, um sich gegen Gewaltübergriffe angemessen wehren zu können.
Abschreckungsfähigkeit: Verteidigungsfähigkeit kann zudem die Risikobewertungen potenzieller Aggressoren beeinflussen. Abschreckungsfähigkeit versucht ebenfalls, sie dazu zu bewegen, die Regeln einzuhalten, indem sie glaubhaft androht, dem Aggressor dort zu schaden, wo es ihn am härtesten trifft. Abschreckungsfähigkeit ist keine Alternative zur Verteidigungsfähigkeit, beide müssen Hand in Hand gehen. Zudem ist sie gegen ideologisch motivierte und verblendete Machthaber nicht zwingend wirksam. Immerhin schreckt aber auch Wladimir Putin vor einer Auseinandersetzung mit der NATO zurück.
Souveränitätsverzicht im Tausch gegen Effektivitätsgewinne: Alle drei bislang genannten Strategien können durch gemeinsames Vorgehen mit anderen in ihrer Wirksamkeit gesteigert werden. Allerdings nur, wenn dieses gemeinsame Vorgehen tatsächlich eine breitere und effiziente Mobilisierung von Ressourcen für die gemeinsamen Anstrengungen beinhaltet. Effektiver Multilateralismus ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis koordinierter nationaler Anstrengungen. Das Maß der Effektivität bemisst sich nach dem Umfang der nationalen Anstrengungen und der Qualität ihrer Koordination. Und Souveränitätsverzicht ist nicht Selbstzweck, sondern ein Weg, um Multilateralismus effektiver zu gestalten. Ein gutes Beispiel hierfür war die Welthandelsorganisation WTO, solange sie noch funktionierte. Ihr ausgefeilter Streitschlichtungsmechanismus konnte Handelskonflikte durch gerichtsähnliche Verfahren erfolgreich schlichten. Inzwischen ist die WTO weitgehend gelähmt. Deutschland und Europa könnten versuchen, ein analoges Regelwerk im Rahmen der OECD aufzubauen. Ein anderes Beispiel wäre ein klimapolitischer Zusammenschluss von Staaten, die bei der Ersetzung fossiler Brennstoffe rascher vorangehen wollen als andere. Ein solcher Klimaclub wäre insbesondere dann effektiv, wenn sich die Beteiligten gemeinsam dazu verpflichten würden, emissionsintensive Einfuhren mit Zöllen zu belegen.
Effektiver Multilateralismus verursacht demnach innenpolitische Kosten, er hat seinen Preis und der dürfte in Zukunft noch steigen. Dazu gehört auch eine (selbst)kritische Aufarbeitung der Frage, warum die deutsche Außenpolitik die Veränderungen in der Weltpolitik in den vergangen Jahren verkannt hat.
Hanns W. Maull
Professor für Internationale Beziehungen, Johns Hopkins Universität Bologna & Senior Research Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Mercator Institut für Chinastudien (MERICS)
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