Menschliche Sicherheit in Zeiten konventioneller Bedrohungen
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Konventionelle Verteidigung und menschliche Sicherheit sind kein Widerspruch – im Gegenteil. Wer strategiefähig sein will, muss beides gleichzeitig denken.
Warum lohnt es sich, auch in Zeiten von militärischer Konfrontation wie in der Ukraine von menschlicher Sicherheit zu sprechen?
Russland führt einen konventionellen Krieg in der Ukraine, in dem es für die Ukraine zunächst einmal darum geht, Gebiete vor feindlicher Eroberung zu schützen. Trotzdem ist es genau dort wichtig, nicht auf die umkämpften Grenzen oder Territorien zu gucken, sondern auf die Menschen, die diesen Krieg erleben.
Das war auch ein Ergebnis meiner Forschung mit vom Konflikt betroffenen Gruppen in der Ostukraine vor 2022. Diese hat gezeigt, dass sich die individuellen Konflikterfahrungen nicht eins zu eins in das Konfliktschema übertragen lassen, das wir im Kopf haben, wenn wir über Krieg reden. Menschen sind verschiedenen und durch individuelle Bedrohungslagen definierten Risiken ausgesetzt. Sie entwickeln deshalb auch individuelle Strategien um mit ihnen umzugehen. Diese entsprechen nicht immer unseren Erwartungen. Beispielsweise waren damals viele Menschen in gefährlicher Nähe zur Front im Donbas geblieben, da ihre Familien in den sogenannten Volksrepubliken lebten und sie in deren Nähe bleiben wollten.
Heute sehen wir das auch: In der Ostukraine werden brutale Kämpfe in Städten ausgefochten, die in der Berichterstattung völlig ausgestorben aussehen. Und doch wissen wir, dass dort immer noch Menschen sind. Oft sind es ältere Menschen, die ihr Zuhause nicht eigenständig verlassen können oder wollen. Dessen muss man sich bewusst sein, um die geplante humanitäre Unterstützung für die Ukraine, an der sich Deutschland beteiligt, entsprechend anpassen zu können.
Kernpunkte:
- Auch in konventionellen Konflikten sind Menschen verschiedenen individuellen Bedrohungslagen ausgesetzt.
- Menschliche Sicherheit versteht Sicherheit kontextspezifisch und umfassend.
- Um strategiefähig zu sein, müssen menschliche Sicherheit und konventionelle Verteidigung gleichzeitig gedacht werden.
Worum geht es denn bei menschlicher Sicherheit?
Es gab und gibt verschiedene Ansätze, die aber eine gemeinsame Grundprämisse teilen: Die Sicherheit der Bürger:innen ist nicht alleine dadurch gewährleistet, dass man sich gegen eine militärische Gefährdung der Landesgrenzen verteidigen kann. Das fängt mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff an und geht bis zum „vernetzten Ansatz“, in dem zivile wie militärische Mittel in der Sicherheitspolitik verzahnt werden sollen.
Umfassende(re) Verständnisse von Sicherheit haben in den letzten Jahrzehnten einigen Aufwind bekommen. Die OSZE etwa nennt drei Dimensionen von Sicherheit – umwelt- und wirtschaftlich, menschlich und politisch-militärisch. Menschliche und auch feministische Sicherheit gehen noch weiter und definieren Sicherheit vom Menschen ausgehend. Menschliche Sicherheit hat dabei den Anspruch, Sicherheit kontextspezifisch und umfassend zu denken.
Feministische Ansätze betonen zudem, dass die Voraussetzungen für Sicherheit für verschiedene Personen(gruppen) unterschiedlich sind. Gefahren fallen oft je nach Geschlecht, Hautfarbe, Ethnie, sexueller Orientierung, Klasse etc. anders aus, und verstärken sich gegenseitig, wenn sich verschiedene Dimensionen von Diskriminierung überlappen.
Um auf die Ukraine zurückzukommen: Dort sind erst einmal alle gleich betroffen von den Bomben, die auf Städte fallen. Und trotzdem ist eine Flucht je nach Alter oder Einkommen einfacher oder schwieriger zu organisieren. Wir erinnern uns zudem alle an die Nachrichten über nicht-weiße Geflüchtete aus der Ukraine, die an der Grenze starker Diskriminierung und Gefahren ausgesetzt waren.
Ein anderes Beispiel sind die Schutzwesten in der ukrainischen Armee. Dort gibt es in der Regel keine passenden für Frauen. Das heißt, sie sind zu schwer und sitzen schlecht, weshalb sich Soldatinnen schwerfälliger bewegen können und so bei Artilleriebeschuss stärker gefährdet sind.
» Gefahren fallen je nach Geschlecht, Hautfarbe, Ethnie, sexueller Orientierung, Klasse, etc. anders aus und verstärken sich gegenseitig, wenn sich verschiedene Dimensionen von Diskriminierung überlappen. «
Bedeutet ein menschlicher Sicherheitsbegriff, dass „konventionelle“ Sicherheitsbedrohungen egal sind?
Nein, das bedeutet es aus meiner Sicht nicht. Eine Lehre des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist, dass es kein Entweder-oder gibt, sondern ein Spektrum. Ohne persönliche Sicherheit ist ein Mensch auch in „Friedens“-zeiten nicht „sicher“; ohne einen Schutz vor konventionellen Angriffen auf das eigene Land kann es keine persönliche Sicherheit geben.
Das heißt in der Praxis: Man kann gleichzeitig Waffen liefern, die für die Verteidigung der Ukraine unbedingt nötig sind, und Programme aufsetzen, die die Verbreitung von Kleinwaffen regulieren. Kleinwaffen können nämlich für marginalisierte Bevölkerungsgruppen unabhängig vom Kriegsverlauf eine große Bedrohung darstellen. Das ist eine Form der Komplexität und Gleichzeitigkeit, zu deren Bearbeitung die Politik in der Lage sein muss. Aus meiner Sicht ist die Fähigkeit, beides zu bedenken ein essentieller Bestandteil von Strategiefähigkeit.
Warum sollte der erweiterte Sicherheitsbegriff einen Platz in der Nationalen Sicherheitsstrategie haben?
Damit die Bundesregierung in ihrer Vorausschau und Reaktion auf Krisen und Kriege mehr Menschen erreicht und besser versteht, welchen Bedrohungen ihre eigene Bevölkerung ausgesetzt ist – von außen aber auch von innen und zum Teil auch durch den Staat.
Diese Gefahren sind komplex und gehen weit über Bedrohungen der eigenen Landesgrenzen hinaus. Für zunehmend viele Menschen werden Klimafolgen zum Sicherheitsrisiko. In Deutschland sind Geflüchtete Sicherheitsrisiken durch Anfeindungen der Bevölkerung aber auch zum Teil der Polizei ausgesetzt. Das ist ebenfalls Teil nationaler Sicherheit.
Diese Bedrohungen lassen sich nicht durch eine einfache Beschreibung von konventionellen Gefahren erfassen. Gleichzeitig sehen wir, dass Russlands konventionelle und nukleare Raketen derzeit die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland darstellen. Daher kann dieser Ansatz aus meiner Sicht nur funktionieren, wenn er als Teil eines Ganzen betrachtet wird, zu dem konventionelle Verteidigungsfähigkeiten gehören.
» Ohne persönliche Sicherheit ist ein Mensch auch in Friedenszeiten nicht „sicher“; ohne einen Schutz vor konventionellen Angriffen auf das eigene Land kann es keine persönliche Sicherheit geben. «
Welche Prioritäten sollten deshalb in der Nationalen Sicherheitsstrategie gesetzt werden?
Wie ein umfassendes Sicherheitsverständnis umgesetzt werden kann, darüber streiten sich Expert:innen und Politiker:innen seit vielen Jahren. Durch die offene Invasion Russlands in der Ukraine gibt es derzeit wieder eine Verschiebung in Richtung konventioneller Fähigkeiten, die gestärkt werden müssen – Stichwort Sondervermögen. Das halte ich persönlich nicht für falsch, aber es sollte durch gleichzeitige Stärkung ziviler Mittel für Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit flankiert werden.
Dabei kann aber nicht einfach weitergemacht werden wie bisher. Dass der „vernetzte Ansatz“ bei Weitem kein Allheilmittel ist, haben das Scheitern internationaler Bemühungen in Afghanistan und mittlerweile auch in Mali gezeigt. Damit menschliche und feministische Sicherheit operativ bestehen können, müssen Fehlern verstanden und die daraus gezogenen Lehren auch umgesetzt werden. Diese Ansätze bekommen allerdings nur dann eine Chance, wenn ihnen in der Nationalen Sicherheitsstrategie einen Platz eingeräumt wird und Ressourcen zur Umsetzung bereitgestellt werden.
Wo liegen die Grenzen dieses Ansatzes?
Wie bereits erwähnt, müssen auch immer „konventionelle“ Gefahren, die eher einem engen Sicherheitsbegriff zuzuordnen sind, betrachtet werden. Zudem liefert der Ansatz aus meiner Sicht wenig Antworten dafür, wie man mit Gegenübern umgeht, denen die menschliche Sicherheit der eigenen Bürger:innen und Fragen ökologischer, wirtschaftlicher oder sonstiger Sicherheit egal sind – beispielsweise Russland. In dem autoritären und zunehmend diktatorischen System geht es vor allem um Regimesicherheit. Die Idee, mit Ansätzen menschlicher Sicherheit im Umgang mit Russland etwas zu erreichen, ist derzeit leider nicht realistisch.
Julia Friedrich
Research Fellow, Global Public Policy Institute (GPPi)
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