Artikel von Michael Zürn

Eine außenpolitische Doppelstrategie für Zeiten des Systemkonflikts

In Big Picture: Prioritäten für die Nationale Sicherheitsstrategie How to Strategie?
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Im Umgang mit Autokratien muss die deutsche Außenpolitik das Konzept der Eindämmung mit ökonomischer Entflechtung verbinden. Wer den Systemkonflikt gewinnt, entscheiden die Länder des Globalen Südens.

Fragt man außenpolitisch informierte Kreise in den USA, wie der Westen zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen hat, so erfolgt geradezu reflexhaft der Verweis auf die Aufrüstungspolitik von Ronald Reagan. In Deutschland wird die Frage ebenso reflexhaft mit der Brandt’schen Entspannungspolitik und der Bahr‘schen Strategie des Wandels durch Annäherung beantwortet. Recht haben beide Seiten. Aber jeweils nur zur Hälfte. 

Wenn es um die strategische Ausrichtung gegenüber potentiell aggressiven Autokratien und menschenrechtsverachtenden Regimen geht, dann muss der Doppelcharakter erfolgreicher Außenpolitik erkannt werden. Schon die Entspannungspolitik von Willy Brandt war nämlich eingebettet in den Schutzschirm der NATO. Brandt war auch stets genauestens darauf bedacht, dass die Entspannungspolitik nicht die NATO schwächt und von den USA mitgetragen wird. Die Einhaltung der Handelsbeschränkungen im Rahmen des COCOM (Coordinating Committee for Multilateral Export Controls) und eine Erhöhung des Anteils der deutschen Rüstungsausgaben am BIP auf 3,4% belegen dies. Später initiierte Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss, ohne die Entpannungspolitik seines Vorgängers im Geringsten in Frage zu stellen.

Statt eines radikalen Schwenks weg von der illusionären Politik des garantierten Wandels durch Annäherung‘ hin zur Politik der dauerhaften und exklusiven Konfrontation‘ sollten wir darüber nachdenken, wie eine Verbindung von Kooperation und Konfrontation ausschauen kann. Eine Verbindung, die die notwendigen Räume für internationale Zusammenarbeit angesichts der globalen Bedrohungen nicht verbaut; gleichzeitig aber auch nicht auf eine klare Verteidigung und Absicherung unseres Territoriums und unserer Demokratie verzichtet. Eine solche Doppelstrategie sollte auf fünf Säulen beruhen, die angesichts systemischer Herausforderungen und globaler Problemlagen nur gemeinsam eine erfolgreiche Außenpolitik Deutschlands in Europa tragen. 


» Statt eines radikalen Schwenks weg von der illusionären Politik des ‚garantierten Wandels durch Annäherung‘ hin zur Politik ‚der dauerhaften und exklusiven Konfrontation‘ sollten wir darüber nachdenken, wie eine Verbindung von Kooperation und Konfrontation ausschauen kann. «

— Michael Zürn

Die fünf Säulen der außenpolitischen Doppelstrategie

Erstens: Das Konzept der Eindämmung, wie es der amerikanische Diplomat George Kennan 1946 im berühmten Langen Telegram‘ ausführte, sollte in die heutige Zeit übertragen werden. Kennan forderte als Reaktion auf eine Rede Joseph Stalins, jede weitere Expansion des sowjetischen Einflussraums zu unterbinden: Das Hauptelement einer jeden Politik der Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion muss eine langfristige, geduldige, aber entschlossene und wachsame Eindämmung der russischen Expansionstendenzen sein.“ Dieses Konzept umfasst heute weit mehr als nur die russische Aggression in der Ukraine zurückzuschlagen oder einen ähnlich gearteten Versuch der chinesischen Regierung in Taiwan abzuwehren. Eindämmung ist ein langfristiger und dauerhafter Prozess und kein einmaliger Abwehrakt, dessen Vollzug eine Rückkehr zur alten Tagesordnung erlaubt. Es geht dabei auch um mehr als eine militärische Eindämmung. Deutsche Außenpolitik muss sowohl der russischen Logik der Einflusssphären als auch der chinesischen Einflussnahme auf afrikanische Länder durch scheinbar günstige Kredite mit geeigneten Maßnahmen entgegengetreten. Eine Akzeptanz dieser Logiken würde die Errungenschaft der Dekolonisierungsbewegungen und letztendlich eine zentrale Norm der internationalen Politik in Frage stellen: die nationale Selbstbestimmung der Völker. 


» Das Konzept der Eindämmung umfasst heute weit mehr als nur die russische Aggression in der Ukraine zurückzuschlagen oder einen ähnlich gearteten Versuch der chinesischen Regierung in Taiwan abzuwehren. Eindämmung ist ein langfristiger und dauerhafter Prozess und kein einmaliger Abwehrakt, dessen Vollzug eine Rückkehr zur alten Tagesordnung erlaubt. «

— Michael Zürn

Zweitens: Mit der starken Reaktion des Westens auf die russische Aggression gegen die Ukraine hatte niemand gerechnet. Nicht nur Putin wurde davon überrascht. Zu verdanken ist sie einer umsichtigen amerikanischen Führungsarbeit, an der US-Außenminister Anthony Blinken einen großen Anteil hat. Unter Donald Trump hätte das anders ausgesehen. Die Selbstdiskreditierung Russlands könnte die Putin-Bewundererinnen und damit auch einige der autoritären Populisten in Westeuropa, wie Marine Le Pen oder die AfD, vorübergehend etwas schwächen. In den USA ist die Schwächung des Trump-Lagers hingegen nicht gesichert. Daraus folgt zweierlei: Wir sollten unseren Beitrag zur NATO leisten und keine Vorwände für einen amerikanischen Rückzug liefern. Und wir sollten gleichzeitig vorbereitet sein, wenn sich die Dinge in den USA anders entwickeln als wir es uns wünschen. Es geht darum, innerhalb der NATO eine zweite, eine europäische Säule aufzubauen, in enger Kooperation mit der aktuellen amerikanischen Führung. Die Staaten der Europäischen Union müssen bereit sein, sich eigenständig zu verteidigen. Mit dem russischen Angriffskrieg und der Präsidentschaft von Emmanuel Macron in Frankreich gibt es ein historisches Fenster, das genutzt werden sollte. Was in der 100-Milliarden-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz fehlte, war die multilaterale Einbindung der Rüstungspolitik in die Europäische Union und die NATO. Wer ernsthaft an einer eigenständigen europäischen Verteidigungsbereitschaft arbeiten möchte, kann die Frage der nuklearen Abschreckung nicht ausklammern. Eine europäische Verteidung ist schon alleine vor diesem Hintergrund nur mit einer privilegierten Position Frankreichs zu haben. Außerdem muss das Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat zu Fragen der Außenpolitik zugunsten eines supranational ausrufbaren Verteidigungsfalls überwunden werden. Das ist weder einfach (siehe Ungarn) noch ohne Gefahren (siehe Marine Le Pen).

Die sicherheitspolitische Dimension ökonomischer Abhängigkeiten 

Drittens: Wandel-durch-Handel kann Sicherheitspolitik nicht ersetzen. Man sollte aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Dass wirtschaftliche Interdependenzen auch deeskalierend wirken können, zeigt das Verhalten Chinas im Krieg gegen die Ukraine. Trotz rhetorischer Unterstützung für Russland, erweist sich die praktische chinesische Politik samt einer de facto Mitwirkung an Sanktionen als mäßigend. Dabei spielt die ökonomische Bedeutung der westlichen Handelspartner, insbesondere die Abhängigkeit des Imports von Halbleitern, eine entscheidende Rolle. Die Globalisierung kann schon aus ökonomischen Gründen nicht komplett zurückgedreht werden, sie sollte es aber auch aus sicherheitspolitischen nicht. Ökonomische Interdependenz garantiert nicht den Frieden, kann aber zivilisierend wirken. Zugleich gilt es, ökonomische Abhängigkeiten gegenüber autoritären und potentiell aggressiven Staaten abzubauen. Wir wissen heute, dass die Nord-Stream-Projekte falsch waren. Deutschland darf keine unumgehbaren Energieabhängigkeiten von autoritären Systemen mehr eingehen. Wie im übrigen Leben auch, müssen Risiken verteilt werden. Deswegen war der Besuch des Wirtschaftsministers Robert Habeck in Katar richtig. Das schon fast Demütigende daran zeigt uns aber auch, dass es nur eine vorübergehende Ausweichmöglichkeit ist. Die Energietransformation ist nicht nur aus klimapolitischen, sondern auch aus strategischen Gründen notwendig. Damit ist freilich noch nicht die Frage der ökonomischen Abhängigkeiten der deutschen Exportindustrie von China geklärt. Auch diese Abhängigkeiten müssen diversifiziert werden. Zumindest gilt es, unkontrollierten Technologieabfluss und materielle Abhängigkeiten wichtiger Unternehmen durch vollständige chinesische Finanzierungen zu verhindern – ein schwieriges Unterfangen. Entscheidend wird aber in jedem Fall sein, dass der Westen die Handels- und Kooperationspolitik gegenüber autokratischen Mächten wieder multilateralisiert. Alleingänge à la Nord Stream darf es nicht mehr geben. 


» Die kluge Gestaltung ökonomischer Verflechtungen sollte also primär defensiv gedacht werden – zur Abwendung asymmetrischer Abhängigkeit. «

— Michael Zürn

Viertens: Während des Kalten Krieges nutzte der Westen ökonomische Abhängigkeiten als Instrument der Einwirkung auf das sozialistische Lager. Am deutlichsten wurde dies beim Erkaufen von humanitären Maßnahmen durch Kredite. So hat alleine die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1963 und 1989 insgesamt 33.755 politische Häftlinge aus den Gefängnissen der DDR freigekauft. Aber auch Handelsvereinbarungen wurden seitens des Westens politisch genutzt. Trotz dieses Erfahrungshintergrunds immer wieder nach ökonomischen Sanktionen zu rufen, könnte sich in der neuen Welt aber als fatal erweisen. Die Lage hat sich verkehrt. Während des Kalten Krieges fürchtete man die (konventionelle) militärische Überlegenheit der Sowjetunion, konnte sich aber der Überlegenheit im Wirtschaftsbereich sicher sein. Heute ist es umgekehrt. Auf absehbare Zeit sind die USA China militärisch weit überlegen. Auch das russische militärische Bedrohungspotential dürfte nach dem Krieg in der Ukraine auf längere Zeit geschwächt sein. Umgekehrt ist aber die wirtschaftliche Abhängigkeit einzelner Unternehmen vom chinesischen Markt und von Zulieferern ähnlich hoch wie die vom russischen Gas – mit erheblichen Folgeeffekten für die Volkwirtschaften insgesamt. Die kluge Gestaltung ökonomischer Verflechtungen sollte also primär defensiv gedacht werden – zur Abwendung asymmetrischer Abhängigkeit. Die Hoffnung, dass die ökonomischen Dependenzen gezielt eingesetzt werden können, zeugt von westlicher Arroganz. Arroganz hat in der Weltpolitik aber noch nie Gutes gebracht. Technologische Abhängigkeiten der chinesischen Industrie können immer wieder entstehen, werden aber aufgrund chinesisicher Gegenmaßnahmen kaum dauerhaft sein. Mit solchen vorübergehenden ökonomischen Abhängigkeiten kann China dazu gebracht werden, bestimmte Verhaltensweisen – wie jetzt das Unterlaufen westlicher Wirtschaftssanktionen – zu unterlassen. Man wird China aber nicht zwingen können, die Ziele ihrer Politik zu ändern.

Der Globale Süden im Systemkonflikt

Fünftens: Der systemische Konflikt kann nur außerhalb der liberalen Demokratie gewonnen werden – in den autoritären Gesellschaften und im Globalen Süden. Um den Globalen Süden an die Seite der liberalen Demokratie zu bringen, bedarf es aber einer grundlegenden Reform der Weltordnung. Mit einer Scheckbuchdiplomatie wird das langfristig nicht gelingen. Kanzler Scholz hat offensichtlich erkannt, wie wichtig das Verhalten von Staaten wie Indien, Südafrika und Indonesien im Krieg gegen die Ukraine und in den anstehenden Systemkonflikten ist. Er scheint aber zu glauben, dass es dafür genügt, einen Schalter umzulegen und sich etwas großzügiger zu geben. Die Positionierung weiter Teile des Globalen Südens im Krieg in der Ukraine sind jedoch mit dem Verweis auf strategische und ökomische Abhängigkeiten nicht ausreichend erklärt. Dahinter steht auch eine tiefe Enttäuschung über die westlich dominierte Ordnung, wie sie nach 1990 entstanden ist. Aus der Sicht des Globalen Südens war sie weniger durch liberale Prinzipien als durch westliche Dominanz und durch Doppelstandards geprägt – bei Handelsvereinbarungen, bei humanitären Interventionen und bei der Verteilung von Stimmrechten in internationeln Organisationen. Wer den Globalen Süden für eine neue internationale Ordnung gewinnen möchte, die unseren liberalen und demokratische Werten dient, muss deren Gesellschaften einen gleichbereichtigen Platz einräumen. Gerade die liberal-demokratischen Staaten müssen auf Sonderrechte, einseitige Festlegungen globaler Normen und Regeln verzichten und Doppelstandards bei der Implementierung dieser Normen vermeiden. Dazu bedarf es Kompromissbereitschaft und die Anerkennung von gleichen Rechten für alle Teile der Weltgemeinschaft. Eine reformierte Weltordnung muss eine multilaterale sein, keine verkappte westliche Dominanz. Deutschland könnte ein erstes kleines symbolisches Zeichen setzen, indem es auf einen festen Sitz im Sicherheitsrat zugunsten großer Länder wie Indien, Brasilien und Südafrika verzichtet. Wenn die europäische Verteidigungsfähigkeit erreicht ist, braucht es den ohnehin nicht mehr. In der Substanz wird es in den nächsten Schritten um die Anerkennung der Interessen und Überzeugungen der Länder des Globalen Südens gehen.

Kernpunkte:

  1. Die deutsche Außenpolitik sollte die Prinzipien der Eindämmung und des Abbaus asymmetrischer Abhängigkeiten verbinden. Einerseits muss sich Europa selbst verteidigen können, um Russland effektiv abzuschrecken. Gleichzeitig gilt es, asymmetrische ökonomische Abhängigkeiten von China zu vermeiden.
  2. Um Länder des Globalen Südens im Systemkonflikt für eine liberale Ordnung zu gewinnen, muss Deutschland kompromissbereit sein und auf einen festen Sitz im UN-Sicherheitsrat verzichten.

Letztlich hängen aber die Details einer neuen Sicherheitsstrategie auch vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ab. Ob Russland weiter von Putin regiert wird, ob der russische Machthaber gestärkt aus dem Krieg hervorgeht oder angesichts des ohnehin anstehenden ökonomischen Niedergangs einer auf Ressourcenausbeutung beruhenden Ökonomie abhängig von China wird. Ob eventuelle Nachfolger:innen Extremnationalist:innen oder demokratisierende Reformer:innen sind – auf all das muss in eine solche Strategie eingehen. Wir brauchen also auch Geduld bei der Entwicklung dieser neuen Strategie. Neu muss sie aber sein – und keine aufgewärmte Version der Jahrzehnte der Hoffnung.


Michael Zürn

Direktor der Abteilung Goverance, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

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