Kaum geschützt und vernachlässigt: Deutschlands Untersee-KRITIS
(Hloplex/Shutterstock)
Kritische Infrastrukturen am Seegrund garantieren unsere Energieversorgung und Möglichkeit zu kommunizieren. Warum schützt Deutschland seine maritime KRITIS also nicht besser?
Seeblindheit, also die Vernachlässigung maritimer Prozesse im alltäglichen Bewusstsein, wurde bereits vielen Gesellschaften diagnostiziert. Kurze lichte Augenblicke und angemessene Aufmerksamkeit stellen sich allenfalls bei einem Ausfall der für selbstverständlich wahrgenommenen Dienstleistungen ein, wie im vergangenen Jahr während der Blockade des Suezkanals durch die ‚Ever Given‘. Die Sabotagen der Nord Stream-Pipelines im September 2022 lösten einen weiteren Kurzzeittrend der politischen und medialen Aufmerksamkeit aus. Infrastrukturen wie maritime Gaspipelines, die sich unter der Wasseroberfläche verbergen, sind von einer mehrfachen Unsichtbarkeit betroffen, weswegen auch ihre Schutzniveaus auf der Skala zwischen unkoordiniert bis schlicht inexistent variieren. Die Anzahl und Typen dieser unterseeischen Einrichtungen wachsen künftig weiter an, ebenso die Abhängigkeit Deutschlands und Europas von ihnen. Entsprechend darf eine Nationale Sicherheitsstrategie mit Weitsicht die gesellschaftlich essenziellen Energie- (Pipelines, Stromkabel, Offshore-Windparks) und Kommunikationsinfrastrukturen (Datenkabel) am Seegrund nicht als blinde Flecken behandeln, wie es deutsche Governanceansätze bisher taten. Denn von einer gesicherten Energieversorgung und Internetkonnektivität hängen viele weitere Kritische Infrastrukturen (KRITIS) ab, beispielsweise der Verkehr, das Finanzwesen und der Gesundheitssektor.
Was zeichnet maritime KRITIS aus?
Maritime KRITIS unterscheiden sich in mehreren Aspekten stark von ihren Pendants an Land, weshalb sie andere Schutzansätze benötigen. Erstens verlaufen sie viel häufiger über nationale Grenzen hinaus, teils sogar durch mehrere Hoheitsgewässer, Ausschließliche Wirtschaftszonen und die Hohe See. Dadurch wird ihre Regulierung komplexer und Gegenstand bi- und multilateraler Politik. Zweitens sind die Eigentumsverhältnisse, aufgrund der höheren Baukosten für Strukturen unter See, häufig komplexer und durch Zusammenschlüsse von Großunternehmen, staatlichen Gesellschaftsanteilen oder bei Datenkabeln sogar durch amerikanische Technologieriesen geprägt. Terrestrische KRITIS wird dagegen meist durch kleine und mittlere Unternehmen gebaut und betrieben. Drittens bilden Seekabel und Pipelines häufig zentrale Flaschenhälse, weil sie die Zirkulation der feinmaschigen, resilienteren Landnetze bündeln. Dadurch können Ausfälle von maritimer KRITIS stärkere Auswirkungen auf die Transportfähigkeit der Netze entwickeln. Mit expliziten Forderungen zu Seekabeln wurde kürzlich die NIS 2‑Richtlinie auf EU-Ebene vorgelegt. Die Nationale Sicherheitsstrategie und ebenso das KRITIS-Dachgesetz müssen den besonderen Eigenschaften maritimer KRITIS Rechnung tragen.
Was sind die Bedrohungen?
Der Ausfall einzelner Leitungen, beispielsweise durch Fischereiunfälle oder Seebeben, ist in Kommunikations- und Energienetzen eingeplant und kann im Regelfall durch freie Kapazitäten auf alternativen Routen ausgeglichen werden. Bei Seekabeln funktioniert die Umleitung der Datenströme mit korrekter Konfiguration innerhalb von Minuten. Die Nord Stream-Sabotagen demonstrierten dagegen, dass beabsichtigte Beschädigungen an einer redundant gebauten Einrichtung nur dann wirksam sind, wenn sie an mehreren Orten koordiniert und zeitgleich durchgeführt werden. Damit werden die Redundanzen und Reparaturkapazitäten überfordert. Erschwerend kommt außerhalb von offen geführten Kriegen hinzu, dass staatliche Akteure ein gewisses Maß an Abstreitbarkeit behalten müssen. Während Sabotagen durch private Akteure in flachen Gewässern wie der Ostsee durchaus denkbar sind, kommen für Manipulationen an Maritimer KRITIS, die tiefer als 500 Meter liegt, nur staatliche Akteure in Frage. Die Nationale Sicherheitsstrategie sollte deswegen alle Optionen von krimineller, aktivistischer, terroristischer und kriegerischer Beschädigung mitbedenken. Die russischen Fähigkeiten zur Unterseesabotage sollten dabei als Maßstab gelten, weil dort die mit Abstand fähigste Flotte an U‑Booten und Spionageschiffen beheimatet ist.
» Die Nationale Sicherheitsstrategie sollte alle Optionen von krimineller, aktivistischer, terroristischer und kriegerischer Beschädigung mitbedenken. «
Wie gelingt besserer Schutz von KRITIS am Meeresboden?
Der Schutz von maritimer KRITIS betrifft ein breites Spektrum an Sicherheitsbehörden. Im europäischen Vergleich wird deutlich, dass sich ganz unterschiedliche nationale Schutzansätze ausgeprägt haben. Während in Frankreich das Militär den Schutzauftrag übernimmt, sind in Malta Zivilschutzbehörden zuständig und in Dänemark reguliert sich die Industrie größtenteils selbst. Auf deutscher Seite gibt es jedoch keine eindeutigen Zuständigkeitszuweisungen. Kurz- und mittelfristig muss Deutschland mit dem anlassbezogenen, teils vom Maritimen Sicherheitszentrum (MSZ) koordinierten Ansatz wohl fortfahren. Auf lange Sicht und insbesondere, wenn es um die Beschaffung teurer Technologien geht, sollten allerdings verbindliche Verantwortungsregelungen vereinbart werden, die weiterhin über Amtshilfeverfahren flexibel bleiben können. Die Vielzahl möglicher Akteure verdeutlicht, dass maritime KRITIS ein Querschnittsthema ist. Ihr Schutz umfasst Fragen der militärisch-zivilen Beziehungen, die Beziehung zwischen maritimer und Cyber-Sicherheitsarchitektur, aber auch, wie Länder ihre bestehende maritime Governance ausüben.
Für einen effektiven Schutz müssen die jeweiligen Infrastrukturen im Gesamtkontext ihrer Netze verortet werden. Bei Energienetzen und dem Internet-Backbone ist Deutschland ein wichtiges Transitland, profitiert aber auch von Anbindungen seiner Nachbarländer. So kommen weniger als zehn Prozent der circa 80 internationalen Datenkabel der EU in Deutschland an. Der wichtige transatlantische Internetverkehr erreicht die EU meist in Frankreich, Spanien oder Portugal und setzt sich in den Landnetzen fort. Bei Stromkabeln nimmt Deutschland neben Dänemark die zentrale Position zur Einbindung Nordeuropas ein, bei Gaspipelines aus Norwegen kommen Belgien und die Niederlande hinzu. Ein gesamteuropäischer Ansatz für einen gemeinsamen Schutz der Infrastrukturen ist damit naheliegend, bestenfalls unter der Einbindung Großbritanniens und Norwegens. Umso problematischer und gleichwohl symbolhaft für die Mängel auf europäischer Ebene ist das Scheitern einer formellen gemeinsamen Ermittlungsgruppe zu Nord Stream, bei der den Ermittlungsbehörden der Partnernationen alle Ergebnisse offengelegt werden müssten.
Ein gemeinsames europäisches Vorgehen hat gleich mehrere Vorteile. Zum einen können die unterschiedlichen maritimen Fähigkeiten der Mitglieder gepoolt und Ressourcen gespart werden. EU-Binnenländer, die zwar indirekt, dennoch immens von der Sicherheit maritimer KRITIS abhängen, hätten zudem die Möglichkeit zur finanziellen Unterstützung. Die einseitige Belastung bestimmter EU-Küstenstaaten für die Übernahme einer gesamteuropäischen Verantwortung sorgt bereits bei Migrationsfragen für Unmut. Ebenfalls hilfreich wäre eine Zusammenarbeit der EU mit der NATO, da Partnerländer wie die USA, Großbritannien und Norwegen bereits deutlich bessere militärische Fähigkeiten im maritimen KRITIS-Schutz entwickelt haben. Im NATO-Rahmen bleiben die Fähigkeiten jedoch rein auf militärischer Ebene, was meiner Meinung nach zu kurz greift, um alle Risiken maritimer KRITIS anzugehen.
» Die Nationale Sicherheitsstrategie kann darauf hinarbeiten, vulnerable Schwachstellen durch resilientere Netze und einer gut abgestimmten marinen Raumplanung zu verringern. «
Welche technischen Möglichkeiten gibt es?
Es stellt sich freilich die Frage, wie technische Schutzansätze möglichst effizient umgesetzt werden können. Da der Schutz maritimer KRITIS üblicherweise in der Eigenverantwortung der Betreiberfirmen liegt, sammelt sich dort das Fachwissen und die technische Kapazität. Die industrielle Standardstrategie der redundanten Netze stößt allerdings in Zeiten hybrider Kriegsführung an seine Grenzen – ganz zu schweigen während offen ausgetragenen Kriegen. Die vergleichsweise geringen europäischen Reparaturkapazitäten für Untersee-KRITIS sind auf Friedenszeiten ausgelegt, wodurch gleichzeitige Beschädigungen nur langsam behoben werden können. Alternativen zeigen die anglo-amerikanischen Ansätze auf. In den USA gehören derzeit zwei zivile Reparaturschiffe der Cable Security Fleet als Public Private Partnership an. Diese müssen ihre Fahrzeuge, Crews und Ersatzteilvorräte den amerikanischen Behörden während Kriegen oder nationalen Notständen zur Verfügung stellen. Großbritannien rüstet dagegen bald die eigene Hilfsflotte mit zwei Multi-Role Ocean Surveillance Ships (MROSS) auf, die gleichzeitig Überwachungs- und Reparaturaufgaben übernehmen sollen. Beide Ansätze wären für Deutschland denkbar, deren Umsetzung auf EU-Ebene aus Ressourcengründen jedoch sinnvoller.
Neben der Überwachung und Reparatur durch Schiffe, U‑Boote und künftig auch Unterwasserdrohnen können die Infrastrukturen selbst mit besserer Sensorik ausgerüstet werden. Dies kann entweder durch die Leitungen selbst, daran angebrachte Passivsonare oder in der Nähe installierte Hydrophon-Einrichtungen umgesetzt werden. Dann wären mehr Daten vorhanden, die zumindest die Zuordnung eines Schadens in der Ermittlungsphase vereinfachen würden und Saboteur:innen abschrecken könnten. Obwohl diese Technologien im Ansatz vorhanden sind, bedarf es noch einiger Forschung um sie zur Marktreife zu bringen. Ebenso wird mehr interdisziplinäre KRITIS-Forschung benötigt, um neue Technologien sinnvoll in die komplexen Akteurskonstellationen integrieren zu können.
Kernpunkte:
- Maritime KRITIS wird kaum geschützt, obwohl sie unsere Lebensgrundlagen sichert, insbesondere die Energieversorgung und Internetanbindung.
- Eine gerechte Lastenteilung innerhalb der EU, Kooperation mit der NATO und der heimischen Industrie sowie mehr eigene Forschung können langfristig für besseren Schutz sorgen.
Was bietet die Zukunft?
Der enorme Ausbau von Offshore-Windparks und perspektivisch auch Solarstrom aus dem nördlichen Afrika wandeln die See absehbar zum zentralen Raum für Produktion und Transit von grüner Energie. Auch wenn hier die Risiken nie völlig vermeidbar sind, so kann die Nationale Sicherheitsstrategie darauf hinarbeiten, vulnerable Schwachstellen durch resilientere Netze und einer gut abgestimmten marinen Raumplanung zu verringern. Als ‚rein wirtschaftliche‘ Projekte, wie von vorherigen Bundesregierungen über Nord Stream 2 behauptet, sollte allerdings keine dieser Maritimen KRITIS mehr wahrgenommen werden. Denn in Zeiten, in denen Interdependenz als Waffe und Infrastrukturen als geopolitische Hebel genutzt werden, muss Deutschland aktiver sein, um seinen Zugang zu lebenswichtigen Gütern abzusichern.
Jonas Franken
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Technische Universität Darmstadt
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