Vernetzte Rohstoffsicherheit: Ein Ende der Flankierungspolitik
Die deutsche Industrie hat sich zu leichtfertig in Rohstoffabhängigkeiten begeben. Um Deutschlands Position zu stärken, muss sich nun der Staat für Rohstoffprojekte und Abbaurechte einsetzen.
Jede mit gesundem Menschenverstand ausgestattete Person weiß: komplexe politische Probleme brauchen politikfeld- und ressortübergreifende Lösungen. Idealerweise werden diese Probleme auch über bestehende Behördenzuständigkeiten hinweg bearbeitet. In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik spricht man von ‚vernetzter Sicherheit‘. Je breiter und facettenreicher ein Themenfeld jedoch ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es weniger zusammenhängend betrachtet wird. Es zerfällt in verschiedene Teilbehandlungen und Ressortkonkurrenzen. Silodenken macht sich breit. Rohstoffsicherheit hat so ein unzureichend vernetztes Breitenproblem. Im Kern ist die Rohstoffversorgung ein Problem der Wirtschaft, aber sie hat auch eine geostrategische und eine Sicherheitsdimension. Je nach Problemlage, Wahrnehmung und Weltsicht wird gerade die sicherheitspolitische Relevanz der Rohstoffsicherheit mal höher, mal niedriger eingeschätzt.
Kein passives Flankieren möglich
In Deutschland war und ist Rohstoffsicherheit in erster Linie ein Thema der Industrie. Die Politik stand zwar stets an der Seite der Unternehmen, jedoch nie als handelnder Akteur, sondern immer nur als Rahmensetzer, Türöffner und – in seltenen Fällen – auch als Kreditgeber. Das rohstoffstrategische Zauberwort für die Politik lautet(e) über Jahrzehnte ‚passive Flankierung‘. Flankieren kann man jedoch nur Aktivitäten, die auch tatsächlich stattfinden. Die deutsche Industrie war indes in den letzten drei Jahrzehnten alles andere als strategisch aktiv. Man könnte sogar mit Fug und Recht behaupten, dass die Industrie mit dem Problem der Rohstoffversorgung äußerst leichtfertig umgegangen ist. Als Resultat entstanden erhebliche Importabhängigkeiten Deutschlands in Bezug auf fast alle wirtschaftlich unerlässlichen, sogenannten kritischen, Mineralien und Metalle. Die großen Erstausrüster, oder Original Equipment Manufacturer — OEMs, (zum Beispiel VW und BMW) haben zwar in den letzten zwei Jahren begonnen, Abnahmevereinbarungen mit wenigen ausgewählten Rohstoffproduzenten abzuschließen. Im Wesentlichen sind aber Industrie und Politik der Bundesrepublik Deutschland weiterhin hochgradig abhängig und damit erpressbar. Es existieren keine großen global tätigen deutschen Konzerne mehr, die im kapitalintensiven und risikoreichen Bergbausektor engagiert sind und maßgeblich zur Rohstoffversorgung der gesamten nationalen Industrie beitragen könnten. Die wenigen deutschen Firmen, die noch in der Rohstoffbranche aktiv sind, stehen im Schatten finanzkräftiger multinationaler Bergbaugiganten und chinesischer Staatsunternehmen.
» Die deutsche Industrie war in den letzten drei Jahrzehnten alles andere als strategisch aktiv. «
Die Bundesregierung kann also streng genommen niemanden effektiv flankieren. Diese – die Militärs würden sagen – Fähigkeitslücke im operativen Kerngeschäft der hiesigen Industrie sollte in den Mittelpunkt der deutschen Rohstoffdebatte rücken. Denn was nützt es, Diversifizierung politisch zu fordern und neue Rohstoffpartnerschaften abzuschließen, wenn kein deutsches Unternehmen diese Maßnahmen durch konkretes Investment und langfristiges Engagement mit Leben füllen kann? Eine solche deklaratorische Rohstoffpolitik läuft Gefahr, sich von den unternehmerischen Realitäten zu entkoppeln und ihren eigenen Ansprüchen nicht zu genügen. Was Deutschland also braucht, ist eine strategische Rohstoffsicherheitspolitik, die nicht nur auf dem Papier oder im Rahmen gut gemeinter Wirtschaftstreffen und Staatssekretär:innenrunden stattfindet. Vielmehr sollte die Devise lauten, dass nur das zählt, was in konkreten Vorhaben mündet. Die harte Erfolgswährung einer strategischen Rohstoffsicherheitspolitik sind also künftig konkrete Rohstoffprojekte – im In- und Ausland realisierte Projekte, deren Produkte die deutsche Industrie versorgen. Nur wenn deutsche oder europäische Unternehmen Abbaurechte erwerben und langfristig in Bergbauprojekte investieren, findet perspektivisch auch Wertschöpfung und damit tatsächlich Rohstoffsicherung statt.
Präsenter Handelsakteur auf den globalen Rohstoffmärkten
Den Zugang zu den Machtrohstoffen der Zukunft – Lithium, Seltene Erden, Kobalt, Nickel und viele weitere Metalle – wird sich die deutsche Volkswirtschaft also nur sichern können, wenn sie als relevanter Akteur auf den globalen Rohstoffmärkten präsent ist. Wenn hierfür die unternehmerische Basis fehlt, das Welthandelssystem dysfunktional ist und Lieferketten überstrapaziert sind, dann wird Rohstoffsicherung eine Aufgabe des Staates. Berlin steht also vor der wegweisenden Entscheidung, entweder alle bisherigen rohstoffpolitischen Initiativen weiterhin der Industrie zu überlassen, zu hoffen, dass diese ihrer Verantwortung nachkommt und die geoökonomischen und sicherheitspolitischen Dringlichkeiten genauso einschätzt wie die Politik. Oder Berlin beginnt, sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, einen ersten politisch-strategischen Fuß auf die Rohstoffmärkte zu setzen. Damit würde der Staat selbst zum Handelsakteur werden.
An dieser Wasserscheide – flankieren oder selbst handlungsfähig werden – stehen wir derzeit. Mit einem stärkeren Engagement des Staats verbinden nicht wenige einen ordnungspolitischen Dammbruch. Der Staat sei der schlechtere Unternehmer, er wisse nichts über die Rohstoffbedürfnisse der Konzerne und würde mit seinem Eingreifen nur Protektionismus auf den Weltrohstoffmärkten befeuern. Das sind alles berechtigte Einwände. Sie galten in der Vergangenheit und werden auch künftig von Bedeutung sein. Gleichwohl sollte man nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die bisherige passive Rohstoffflankierungspolitik der letzten Jahrzehnte die Abhängigkeiten nicht verkleinert hat. Deutschland hat keine Rohstoffunternehmen, ist in vielen Bereichen der Zukunftstechnologien (Batterien, E‑Mobilität) nahezu vollständig von China abhängig. Es gibt keine Rohstofflager, die bisherigen Rohstoffpartnerschaften (mit der Mongolei, Kasachstan, Peru und Chile) sind wirkungslos und auf die Frage, woher die vielen Rohstoffe in Zukunft kommen werden, hat Berlin keine zufriedenstellenden Antworten. Hilfloser und handlungsunfähiger geht es also kaum noch.
» An dieser Wasserscheide – flankieren oder selbst handlungsfähig werden – stehen wir derzeit. «
Deutschland steht hier in der westlichen Welt bei weitem nicht alleine da, ist aber im Grad der systemischen Entkopplung von der globalen Rohstoffindustrie wahrscheinlich Weltmeister. So sind die USA, Großbritannien und sogar die Schweiz zumindest finanzielle Heimat global tätiger Bergbaukonzerne. Frankreich, Schweden, Finnland, Österreich und auch Polen haben heimische Rohstoffkonzerne von globaler Relevanz. Deutschland dagegen steht blank da.
Integrierte Rohstoffsicherungspolitik
Berlin – im engem Zusammenspiel mit Brüssel und jenen EU-Staaten, die im Rohstoffgeschäft noch stark vertreten sind – sollte Rohstoffsicherheit daher ähnlich wie die Sicherheits- und Verteidigungspolitik als ‚vernetzt‘ beziehungsweise ‚integriert‘ begreifen. Das Sicherungsnetz kann nur ein Geflecht aus effektivem Engagement der Politik, Unternehmensinitiativen und als letzten Hebel auch staatsunternehmerischer Handlungsfähigkeit sein. Das eine (strategisch-integrierte Rohstoffpolitik) wird künftig nicht mehr ohne das andere (Unternehmenshandeln) auskommen. Eine gemeinsame Rohstoffsicherungspolitik, angelegt zwischen Industrie und Politik, kann bedeuten, die beiden Sphären punktuell enger zusammenzubringen. Es kann aber auch heißen, den Staat zu befähigen, als Handelsakteur aufzutreten, da nur er die volkswirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und bündnisstrategischen Erfordernisse im Blick hat. Kurzfristig notwendig sind sicher neue oder neu mit Leben gefüllte Rohstoffpartnerschaften. Australien ist ein idealer Kandidat für so eine weitreichende Partnerschaft mit Deutschland – und zwar nicht nur im Bergbausektor, sondern auch in den Bereichen geowissenschaftlicher Expertise und Bergbauausrüstung. Mit Australien als demokratischem Wertepartner und Rechtsstaat mit langer Bergbautradition wäre auch sichergestellt, dass Umwelt- und Sozialstandards eingehalten würden. Diese wie auch alle anderen Partnerschaften müssen sich jedoch durch konkretes unternehmerisches Engagement selbst tragen, da sie sonst wieder nur auf dem Papier existieren.
Kernpunkte:
- Die bisherige passive politische Flankierung der deutschen Industrie bei der Rohstoffsicherung reicht nicht mehr aus. Der Staat muss handlungsfähig sein.
- Die Bundesregierung sollte Rohstoffsicherheit als vernetztes Sicherheitsproblem von Industrie und Politik verstehen und entsprechend organisieren.
- Der Staat muss im Rahmen neuer Rohstoffpartnerschaften oder langfristig mit einer europäischen Rohstoffagentur Abhängigkeiten minimieren und Erpressbarkeiten verhindern.
Langfristig wäre zu überlegen, eine handlungsfähige europäische Rohstoffagentur aufzubauen, analog zu Japans Jogmec und Südkoreas Komir. Damit eine solche Rohstoffagentur mittel- und langfristig Wirkung entfalten kann, müsste sie jedoch möglichst bald aus der Taufe gehoben werden. 2023, wenn die EU ihren Critical Raw Materials Act auf den Weg bringt, wäre eine günstige Gelegenheit. Wenn es bei dem Aufbau einer solchen Agentur notwendig ist, einige Tabus und Paradigmen des außenwirtschaftlichen Handelns zu hinterfragen, dann sollte dies interessensbasiert und ohne ideologische Abwehrreflexe geschehen. Schließlich haben die Auslandsaktivitäten der deutschen Industrie im Falle Russlands und Chinas gezeigt, dass die Wirtschaft Geostrategie aus dem Orbit ihrer Eigenlogik nicht ausreichend wahrnimmt und entgegensteuert. Wirtschaftsgetriebene und politisch schöngeredete, multiple Abhängigkeiten sind jedoch keine abstrakten Risiken, sondern Erpressbarkeiten in Lauerstellung. Dies kann sich die machtstrategisch unbedarfte Bundesrepublik nicht mehr leisten. Bei der Rohstoffsicherheit kann die Bundesregierung testen, wie weit bereit und imstande sie ist zu gehen. Ohne eigene Handlungsfähigkeit wird uns künftig niemand zur Seite stehen.
Jakob Kullik
Research Associate, TU Chemnitz
Jens Gutzmer
Direktor, Helmholtz-Institut Freiberg für Ressourcentechnologie
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