Kein Selbstläufer: Der notwendige Wandel Deutschlands strategischer Kultur
Bundeskanzler Olaf Scholz während der ‚Zeitenwende-Rede’ am 27. Februar 2022 (CLEMENS BILAN/EPA-EFE/Shutterstock)
Deutschland muss mehr Strategie wagen. Für den geforderten Wandel der strategischen Kultur brauchen Politiker:innen jetzt Mut zur offenen Kommunikation und aktiven Gestaltung.
„Deutschlands neue Rolle erfordert eine neue strategische Kultur, und die Nationale Sicherheitsstrategie (…) wird diesem Umstand Rechnung tragen“, schreibt Bundeskanzler Olaf Scholz in der Foreign Affairs. Nahezu inflationär wird die Notwendigkeit einer ‚neuen‘ strategischen Kultur für Deutschland im Zuge der Zeitenwende zitiert und als entscheidende Voraussetzung angeführt, um den Weg für Deutschlands Rolle als „Garant für europäische Sicherheit“ zu ebnen. Derartige Diskussionen und Forderungen sind keineswegs neu. Allerdings fehlt im politischen und gesellschaftlichen Diskurs hierzulande zumeist die erforderliche Auseinandersetzung damit, was eigentlich unter strategischer Kultur zu verstehen ist und wie der notwendige Wandel tatsächlich erreicht werden kann. Stattdessen herrscht der Eindruck vor, eine Änderung würde dann erreicht werden, wenn die Bevölkerung ‚endlich‘ die gestiegene Verantwortung Deutschlands in der internationalen Politik und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen akzeptiere. Blickt man auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit strategischer Kultur und das deutsche Meinungsbild, greift diese Annahme jedoch zu kurz: Allen voran Deutschlands politische Entscheidungsträger:innen haben eine besondere Verantwortung, den geforderten Wandel selbst aktiv mitzugestalten.
Kernpunkte:
- Den geforderten Wandel der strategischen Kultur Deutschlands müssen die politischen Entscheidungsträger:innen selbst aktiv gestalten.
- Statt hinter vermuteten Grenzen zu verharren, sollten Entscheidungsträger:innen im Diskurs dort ansetzen, wo strategische Kultur und Realpolitik im Widerspruch zu einander stehen.
- Der Kanzler oder die Kanzlerin sollte eine jährliche Rede über die Vision von Deutschlands Rolle in der internationalen Politik halten. Begleitet von einer Sicherheitswoche mit partizipativen Elementen.
Strategische Kultur als „negotiated reality among elites“
Colin S. Gray, einer der wichtigsten Befürworter von strategischer Kultur als Analyse-Kategorie in den Internationalen Beziehungen, definiert sie als „fortbestehende (wenn auch nicht ewige) gesellschaftlich überlieferte Ideen, Einstellungen, Traditionen, Denkgewohnheiten und bevorzugte Vorgehensweisen, die mehr oder weniger spezifisch für eine bestimmte geografische Sicherheitsgemeinschaft sind, die notwendigerweise eine einzigartige Erfahrung gemacht hatStrategische Kultur“. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sicherheitspolitische Entscheidungen, allen voran der Einsatz militärischer Gewalt, nicht in einem ‚rationalen‘ Vakuum getroffen werden. Stattdessen bewegen sich Entscheidungsträger:innen bei der Bewertung von internationaler Politik und Auswahl möglicher Handlungsoptionen in einem kulturell-spezifischen Referenzrahmen von Denkmustern, Präferenzen und Traditionen. Diese sind aus einer historisch einzigartigen Erfahrung herauswachsen und werden innerhalb einer Gesellschaft übermittelt. Internationale Politik wird demnach nicht objektiv, sondern aus dem Blickwinkel der jeweiligen strategischen Kultur betrachtet.
Als Hüterinnen und Gestalterinnen von strategischer Kultur kommt in erster Linie politischen Eliten eine entscheidende Bedeutung zu. Jeffrey S. Lantis definiert strategische Kultur als „negotiated reality among elitesStrategic culture“, da Eliten die Interpretation internationaler Politik in ihren Entscheidungsprozessen dominieren und so die nationale Wahrnehmung von Sicherheits- und Verteidigungspolitik wesentlich prägen. Doch auch das öffentliche Meinungsbild nimmt in demokratisch verfassten Gesellschaften eine wichtige Stellung ein, indem es die Parameter für ‚akzeptables‘ staatliches Verhalten setzt. Liegt sicherheitspolitisches Handeln zu weit außerhalb der strategisch-kulturellen Denkmuster, droht Entscheidungsträger:innen potentiell der Verlust von Stimmen. So ist es möglich, dass das öffentliche Meinungsbild den Handlungsspielraum von politischen Entscheidungsträger:innen beschränkt und Entscheidungen bremst, die sich zu sehr außerhalb des Rahmens der strategischen Kultur bewegen.
» Internationale Politik wird nicht objektiv, sondern aus dem Blickwinkel der jeweiligen strategischen Kultur betrachtet. «
Gängige Charaktersierungen Deutschlands als „Zivilmacht“ oder „gezähmte Machtgezähmte Macht“ bringen zum Ausdruck, dass das ideelle Reservoir politischer Handlungsoptionen aufgrund von Deutschlands strategischer Kultur im Gegensatz zu anderen Nationen deutlich eingeschränkter ist. Anstatt in der Vergangenheit nach Richtlinien für außenpolitisches Handeln zu suchen, basiert Deutschlands strategische Kultur auf der Ablehnung seiner militärischen Geschichte. Hieraus ergibt sich mitunter eine Kultur der sicherheitspolitischen Zurückhaltung, die sich in einer Skepsis gegenüber dem Einsatz militärischer Gewalt und einer pazifistischen Grundhaltung der Bevölkerung äußert. Damit einhergeht eine Präferenz für nicht-militärische Mittel, die der Nutzung von Deutschlands politischen und wirtschaftlichen Mitteln Vorrang einräumt. Deutschlands Vergangenheit verpflichtet zudem unter dem Grundsatz „Nie wieder“ zu einer Politik des Schutzes von Menschenrechten, zur Wahrung des internationalen Rechts und zur Förderung von internationalem Frieden und Stabilität. Zuletzt prägt der europäische Integrationsprozess, der zur Befriedung des europäischen Kontinents und Rehabilitation Deutschlands beitrug, die deutsche strategische Kultur. Das Schlagwort „Never alone“ beschreibt die Abkehr von einem deutschen Sonderweg und stellt Multilateralismus und Allianzsolidarität in den Mittelpunkt deutscher Ratio.
Strategisch-kultureller Wandel: inkrementell oder schockbedingt
Anhand dieser relativ stabilen Leitlinien orientiert sich die deutsche Außenpolitik bis heute. Generell ist die strategische Kultur eines Landes von nahezu permanenter Natur – ein Wandel erfolgt in der Regel inkrementell und über einen längeren Zeitraum hinweg. Veränderungen des internationalen Umfeldes haben hingegen nur begrenzte Auswirkungen darauf. Lediglich in Ausnahmefällen vollzieht sich ein Wandel vergleichsweise schneller und entschiedener: durch externe Schockmomente, die die Grundfeste der strategischen Kultur erschüttern und eine schnelle Anpassung erforderlich machen. Oder etwa im Falle einer strategisch-kulturellen Dissonanz, bei der die zentralen Pfeiler der strategischen Kultur zunehmend in Widerspruch zueinander geraten und somit keine eindeutigen Richtlinien mehr zur Verfügung stellen.
All diese Entwicklungen sind in Deutschland zu beobachten: Seit Ende des Kalten Krieges hat sich Deutschlands strategische Kultur langsam, aber graduell weiterentwickelt. Das untermauern auch die Debatten von der deutschen Scheckbuch-Diplomatie, den ersten Auslandseinsätzen der Bundeswehr bis hin zum Engagement in Afghanistan oder Mali. Zugleich treten die Leitlinien der deutschen strategischen Kultur immer wieder in Widerspruch zueinander: Ob Kosovo-Krieg, Libyen-Intervention oder aktuell die militärischen Unterstützungsleistungen an die Ukraine im Krieg gegen Russland – die Kultur der militärischen Zurückhaltung und die Grundsätze „Nie wieder“ und „Never alone“ stehen sich zunehmend unvereinbar gegenüber. Zuletzt hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine viele Positionen deutscher Außenpolitik in ihren Grundfesten erschüttert. Er stellt somit einen tiefgreifenden Schockmoment dar, der durchaus eine Änderung in Deutschlands strategischer Kultur bewirken könnte.
» Die Grundsätze „Nie wieder“ und „Never alone“ stehen sich zunehmend unvereinbar gegenüber. «
Auf den ersten Blick spricht auch einiges dafür: Einerseits hat die Bundesregierung unter dem Stichwort „Zeitenwende“ Maßnahmen angestoßen, die mit politischen Tabus brachen und eine Abkehr Deutschlands zögerlicher Haltung verhießen. Dazu zählen insbesondere die Waffenlieferungen an die Ukraine und das Sondervermögens für die Bundeswehr. Nach einem Jahr muss jedoch konstatiert werden, dass die Implementierung der Zeitenwende hinter vielen Erwartungen zurückbleibt und mehr finanzielle Mittel allein keine Veränderung des Mindsets bewirken. Einige kluge Beiträge legen bereits dar, welche institutionellen und strukturellen Maßnahmen notwendig sind, um Deutschlands Strategiefähigkeit, insbesondere die strategische Vorausschau und einen effektiveren gesamtstaatlichen Ansatz, zu verbessern. Andererseits zeigen Umfragen, dass der Krieg durchaus eine Zäsur für die deutsche Bevölkerung darstellt: Das Sicherheitsgefühl der Deutschen hat stark abgenommen, wobei die Bedrohungswahrnehmung hinsichtlich Russlands, einer kriegerischen Auseinandersetzung und eines möglichen Einsatzes von Atomwaffen deutlich gestiegen sind. Die Unterstützung für eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Bundeswehr erreicht Rekordzustimmungswerte. Besonders auffällig ist, dass der Krieg auch die bislang übliche Diskrepanz zwischen der prinzipiellen Bündnistreue und der praktischen Bündnissolidarität zu schließen vermag: Während die deutsche Bevölkerung schon länger mehrheitlich Deutschlands Mitgliedschaft und Engagement in der NATO begrüßt, wurden konkrete Beiträge Deutschlands (beispielsweise zur Sicherung der NATO-Ostflanke) bislang deutlich weniger befürwortet. Inzwischen sprechen sich jedoch wesentlich mehr Bürger:innen für die Beteiligung der Bundeswehr an der enhanced Forward Presence in Litauen oder dem Air Policing im Baltikum aus.
Allerdings führten vorangegangene, im weitesten Sinne vergleichbare Schockmomente wie 9/11 oder Russlands völkerrechtliche Annexion der Krim 2014 ebenfalls zu höheren Zustimmungsraten für ein aktiveres, verantwortungsvolleres deutsches Engagement in der internationalen Politik. Ein grundlegender Kulturwandel blieb jedoch aus. Bereits heute ist absehbar, dass wesentliche Pfeiler der deutschen strategischen Kultur, allen voran die militärische Zurückhaltung (etwa gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Kontext des Krisenmanagements), in den Köpfen der Menschen verankert bleiben.
Fördern, statt fordern
Der Wandel in Deutschlands strategischer Kultur ist also weder garantiert noch ein Selbstläufer. Möchte man die Chance auf eine wirkliche Veränderung wahren, so erfordert dies den Willen und das Engagement der politischen Entscheidungsträger:innen unter Einbindung der Zivilgesellschaft. Seit geraumer Zeit belegen Umfragen, dass die deutsche Bevölkerung in weiten Teilen bereits deutlich aufgeschlossener gegenüber einer verantwortungsvolleren Rolle Deutschlands ist, als es ihr deutsche Politiker:innen oftmals zugestehen. Politische Entscheidungsträger:innen sollten nicht nur hinter den vermuteten Grenzen verharren, die Deutschlands strategische Kultur vorgibt. Stattdessen sollten sie mit ihrer Deutungshoheit im politischen Diskurs dort ansetzen, wo strategische Kultur und realpolitische Anforderungen im Widerspruch zu einander stehen. Mut zu einer offenen und ehrlichen (sicherheits-)politischen Kommunikation, unabhängig von parteipolitischen Differenzierungskämpfen, ist gefragt. Sicherheitspolitik gehört in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses – nicht nur in Krisenzeiten. Zwar hat der Krieg in der Ukraine das Bewusstsein und die Diskussion über sicherheits- und verteidigungspolitische Fragestellungen in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt. Es herrscht jedoch nach wie vor eine außergewöhnlich große Informationsdiskrepanz zwischen der breiten Öffentlichkeit und der sicherheitspolitischen Community. Information ist nicht nur die Grundlage für Teilhabe an sicherheitspolitischen Entscheidungen, sondern auch im Interesse der Entscheidungträger:innen. So geht beispielsweise aus Studien hervor, dass die Akzeptanz von Auslandseinsätzen der Bundeswehr mit dem subjektiv wahrgenommenen Informationsstand steigt. Seit Kriegsbeginn interessieren sich die Bürger:innen mehr denn je für außen- und sicherheitspolitische Themen. Sie fühlen sich jedoch schlecht informiert. Diese Informationslücken gilt es also effektiver zu schließen. Die Bundesregierung muss Kommunikation als wichtiges Element von Strategie bereits von Beginn an mitdenken, sie ressortübergreifend abstimmen und politische Maßnahmen verständlich und vor allem zielgruppenorientiert erklären. Der partizipative Prozess zur Erstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie sowie die „Zeitenwende on tour“ der Münchner Sicherheitskonferenz, gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, sind wichtige Schritte. Jedoch darf es mit ihrem Abschluss damit nicht getan sein.
» Sicherheitspolitik gehört in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses – nicht nur in Krisenzeiten. «
Als zentrales Forum für den politischen Austausch kommt dem Deutschen Bundestag eine herausragende Bedeutung zu. Unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine sollte die Zeitenwende-Rede des Kanzlers der Auftakt für eine jährliche Grundsatzrede zur Außen‑, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein. In dieser Rede sollte der Kanzler oder die Kanzlerin die Vision von Deutschlands Rolle in der internationalen Politik definieren, sie durch Initiativen untermauern und ihre Umsetzung dokumentieren. Gerade in Zeiten strategisch-kultureller Dissonanz muss eine Verstetigung der politischen Ansprache Orientierung bieten. Anlassbezogene Debatten im Bundestag, wie im Falle von Mandatsverlängerungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, reichen nicht aus, um eine strategische Debatte in Deutschland zu führen, geschweige denn sie im gesellschaftlichen Diskurs zu verankern. Deshalb sollte es eine Sicherheitswoche mit begleitenden partizipativen Elementen geben, die ausreichend Zeit einräumt, um grundsätzlich über Deutschlands Herausforderungen, Prioritäten und Interessen zu diskutieren.
Es bedarf außerdem der Förderung weiterer sicherheitspolitischer Multiplikatoren, die nicht nur in der Berliner Blase agieren, sondern die deutsche Bevölkerung ganzheitlich erreichen. Einrichtungen wie Think Tanks, politische Stiftungen und andere Institutionen der politischen Bildung sind die natürlichen Ansprechpartner. Doch sie können nur dann die Rolle des Vermittlers erfüllen, wenn die politische Seite die Finanzierung für Maßnahmen mit breiter Öffentlichkeitswirkung ausreichend bereitstellt. Ähnliches gilt für die Einrichtung von Lehrstühlen an Universitäten mit einem explizit sicherheits- und verteidigungspolitischen Fokus sowie für die tiefere thematische Auseinandersetzung mit sicherheitspolitischen Themen an (weiterführenden) Schulen. Gerade jüngere Generationen, die ernsthafte sicherheitspolitische Krisen lediglich aus Geschichtsbüchern kennen, sind aufgrund der Ereignisse in der Ukraine verunsichert, aber auch in besonderem Maße an Information und Mitgestaltung interessiert.
Ob der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auch eine Zäsur für Deutschlands strategische Kultur darstellt, steht also noch nicht fest. Doch sollten politische Entscheidungsträger:innen das Interesse und den Wunsch der Bevölkerung nach Information und Teilhabe an deutscher Sicherheitspolitik als Möglichkeit sehen, um auf den von ihnen geforderten Wandel bewusst hinzuwirken.
Andrea Rotter
Referatsleiterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Hanns-Seidel-Stiftung
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