Ein Anfang, nicht das Ende: Die Nationale Sicherheitsstrategie als Auftakt eines regelmäßigen Strategiezyklus
Niederländisches Justizministerium (Roel Wijnants/Flickr)
Die Nationale Sicherheitsstrategie sollte der erste Impuls zur Entwicklung eines nachhaltigen strategischen Ökosystems in Deutschland sein. Als Vorbild dienen die Niederlande.
Die bisherige Debatte zur Nationalen Sicherheitsstrategie fokussiert sich in weiten Teilen stark auf Fragen der internationalen Sicherheitspolitik. Dies wäre schon in ‚normalen Zeiten‘ ein verständlicher Impuls, da auch in vielen anderen Staaten nationale Sicherheitsstrategien einen eher internationalen Fokus haben. Der zeitliche Zusammenfall des Prozesses mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die Diskussion um dessen Folgen hat diesen internationalen Reflex sicher nicht geschwächt. Es ist aber keineswegs so, dass sicherheitspolitische Expert:innen die Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Sicherheit ausklammern. Im Gegenteil: Sowohl die Außen- als auch die Innenministerin sowie eine Reihe von Expert:innen – auch auf +49security oder beim Verfassungsblog – haben Fragen der inneren Sicherheit für die Nationale Sicherheitsstrategie thematisiert. Ganz generell kann man feststellen, dass die Vorstellung, innere und äußere Sicherheit könnten oder gar sollten zwei vollkommen getrennte Sphären sein, mittlerweile weithin als nicht mehr zeitgemäß betrachtet wird.
Der Streit um die mangelhafte Einbeziehung der Länder in die Entwicklung der Strategie zeigt allerdings, dass zwischen Anspruch und Realität der „integrierten Sicherheit“ noch ein Graben klafft. Um diesen Graben zu überwinden und den formulierten Anspruch integrierter Sicherheit in gelingende Politik übersetzen zu können, müssen politische Entscheidungsträger:innen vor allem zwei wichtige Weichenstellungen nachholen:
- Die deutsche Sicherheitspolitik braucht einen regelmäßigen, methodisch unterfütterten strategischen Zyklus.
- Es müssen die Voraussetzungen für die Entwicklung eines dynamischen und interdisziplinären strategischen Ökosystems geschaffen werden.
Strategischer Zyklus nach dem Vorbild der Niederlande
Ein hervorragendes Beispiel für einen belastbaren Strategiezyklus findet sich in den Niederlanden. Dort hat man bereits mehrere Strategiezyklen durchlaufen und eine anspruchsvolle Methodik entwickelt. Der Strategiezyklus beginnt mit einer Risikoanalyse, die allerdings nicht die Regierung selbst erstellt, sondern ein Analyst:innennetzwerk für die nationale Sicherheit (ANV). Allein schon dessen Zusammensetzung ist bemerkenswert. Der innere Kern dieses Analyst:innennetzwerks besteht aus sieben Institutionen: dem staatlichen Institut für Volksgesundheit und Umwelt (RIVM), dem niederländischen Wissenschaftszentrum für angewandte Forschung (TNO), dem niederländischen Institut für internationale Beziehungen ‚Clingendael’, dem wirtschaftlichen Forschungsinstitut ‚SEO Economisch Onderzoek‘, dem niederländischen In- und Auslandsnachrichtendienst (AIVD), dem niederländischen Militärnachrichtendienst (MIVD) sowie dem wissenschaftlichen Forschungs- und Dokumentationszentrum (WODC). Darüber hinaus bezieht das Netzwerk Expertise aus einem weiteren Kreis an Organisationen in seine Arbeit ein: von Sicherheitsbehörden über Wissenseinrichtungen und die niederländischen Sicherheitsregionen bis hin zu wichtigen Betrieben. Diese multidisziplinäre Zusammensetzung ist Ausdruck eines All-Hazard Ansatzes, der diverse Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit der Niederlande systematisch untersucht und zueinander in Bezug setzt.
Ein systematisches Herangehen an die Analyse von Risiken für die nationale Sicherheit und die Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie ist also durchaus mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden. Diesen sollte man allerdings auch ernsthaft betreiben, wenn man vermeiden will, „dass in dieser nationalen Sicherheitsstrategie nicht eine einzige Erkenntnis enthalten ist, die uns als teilnehmende Beobachter überrascht“. Ein Blick in die jüngste niederländische Risikoanalyse des ANV vom Sommer 2022 illustriert auf einen Blick (etwa mit dem Risikodiagramm auf S. 58) das Potential und den Mehrwert dieses Ansatzes: Die Analyse setzt unterschiedliche Arten von Sicherheitsrisiken und ‑bedrohungen zueinander in Beziehung. In einem analytischen Raster, welches diese Risiken und Bedrohungen nach Wahrscheinlichkeit des Eintritts und Dimension der Auswirkungen (Schäden) einordnet und anhand von konkret ausformulierten Szenarien illustriert. Und genau eine solche All-Hazard Gesamtschau sollte sich dann im besten Fall auch in der Strategie niederschlagen.
Dieser gemeinsame Referenzpunkt für die Debatte um eine nationale Sicherheitsstrategie fehlt uns in Deutschland schmerzlich. Auf die Veröffentlichung der Strategie folgt in den Niederlanden die Phase ihrer Implementierung, verbunden mit einem kontinuierlichen Monitoring und einer Halbzeitevaluierung. Diese wiederum erstellt die Regierung. Den nächsten Strategiezyklus leitet dann eine erneute Risikoanalyse des Analysten:innennetzwerks ein.
Kernpunkte:
- Die Niederlande haben einen vorbildlichen Strategiezyklus entwickelt, bei dem ein multidisziplinäres Analyst:innennetzwerk Risikoanalysen erstellt.
- Die Verabschiedung der Sicherheitsstrategie sollte mit der Einführung eines strategischen Zyklus einhergehen, der die Phasen der Umsetzung und Evaluierung einschließt.
- Die Bundesregierung sollte einen Strategiestab, ein unabhängiges Expert:innennetzwerk, eine Clearing- und Auditstelle ‚Haushalt und Strategie‘ und eine parlamentarische Konferenz für nationale Sicherheit etablieren.
Ein strategisches Ökosystem etablieren
Ein fest etablierter Strategiezyklus ist zudem auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich überhaupt ein dynamisches und interdisziplinäres strategisches Ökosystem entwickelt. Dieses sollte im föderalen System der Bundesrepublik unbedingt auch Ankerpunkte in den Bundesländern umfassen. Erst die Aussicht auf regelmäßig wiederkehrende Diskussionszusammenhänge schafft den Anreiz für viele staatliche wie nicht-staatliche Akteure, die notwendigen Ressourcen abzustellen, Expertise und Wissensmanagement zu entwickeln. Wenn hingegen nicht klar ist, wie die Strategie umgesetzt und evaluiert wird und ob – und wenn ja wann – sich ein nächster Strategieprozess anschließt, investieren die betroffenen Akteure diese Ressourcen nicht. Daher sollte die Verabschiedung dieser Sicherheitsstrategie mit der verbindlichen Einführung eines solchen strategischen Zyklus einhergehen.
Aufgrund der beschriebenen Anreize könnte sich dann ein Teil des strategischen Ökosystems sogar autonom und allein aus dem Eigeninteresse der relevanten Akteure entwickeln. Im Nachgang zur Veröffentlichung der Sicherheitsstrategie sollten aber zusätzlich ganz gezielt spezifische Elemente eines solchen Ökosystems etabliert werden, die bestimmte Funktionen in einem Strategieprozess erfüllen. Vier besonders wichtige Elemente wärenÖkosystem:
- Ein Strategiestab, der zukünftig die Strategieentwicklung zwischen den Ressorts sowie zwischen Bund und Ländern koordiniert.
- Ein unabhängiges Expert:innennetzwerk wie in den Niederlanden, welches die Erstellung der Risikoanalyse zu Beginn eines jeden Strategiezyklus verantwortet.
- Eine Clearing- und Auditstelle ‚Haushalt und Strategie‘.
- Eine parlamentarische Konferenz für nationale Sicherheit, die sich aus Mitgliedern des Deutschen Bundestags und der Landtage zusammensetzt.
Der Bedarf für einen permanenten Strategiestab braucht angesichts der Erfahrungen mit dem aktuellen Prozess keine weitere Begründung. Es sprechen viele Gründe dafür, einen solchen Stab im Kanzleramt zu etablieren – allen voran die erforderliche Schnittstellenfunktion zwischen Bund und Ländern.
Den Mehrwert eines unabhängigen Expert:innennetzwerks illustriert das Beispiel der Niederlande. Ein deutsches Netzwerk sollte ebenfalls die Mitwirkung der Inlands- und Auslandsnachrichtendienste vorsehen. Diese werden in der aktuellen fachöffentlichen Diskussion sowohl zur Sicherheitsstrategie als auch zur Zeitenwende bisher zu wenig beachtet.
» Es sprechen viele Gründe dafür, einen permanenten Strategiestab im Kanzleramt zu etablieren – allen voran die erforderliche Schnittstellenfunktion zwischen Bund und Ländern. «
Eine Clearing- und Auditstelle ‚Haushalt und Strategie‘ sollte dafür Sorge tragen, dass die Nationale Sicherheitsstrategie sich auch sinnvoll in den öffentlichen Haushalten niederschlägt. Ihre Arbeit könnte rund um eine ‚Strategic Spending Review‘ organisiert werden. Ein spannendes Beispiel für den Wert einer Spending Review für die strategische Debatte findet sich im Vereinigten Königreich.
Eine Parlamentarische Konferenz für nationale Sicherheit wäre schließlich ein wichtiger Beitrag für eine fruchtbare Einbeziehung der Länderperspektive in die Diskussion um nationale Sicherheit. Sie würde über die föderale Dimension hinaus auch der ausschussübergreifenden Diskussion Raum geben. Anlässe für Sitzungen dieser parlamentarischen Konferenz könnten die Vorstellung der Risikoanalyse, des Regierungsentwurfs für eine nationale Sicherheitsstrategie, die Halbzeitevaluation der Strategie sowie die Vorstellung einer Strategic Spending Review sein. Sie wäre ebenso ein passender Resonanzraum zur Diskussion von europäischen Strategiedokumenten.
In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass die erste Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik nur der Anfang ist: der Auftakt zu einem regelmäßigen strategischen Zyklus und der Impuls zur Entwicklung eines nachhaltigen strategischen Ökosystems.
Der vorliegende Beitrag gibt allein die persönliche Einschätzung des Autors wieder. Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Eine längere Version dieses Textes ist am 23.01.2023 in FES kompakt erschienen.
Marius Müller-Hennig
Referent für Freiheit, Recht und Sicherheit im Referat Beratung, Friedrich-Ebert-Stiftung
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