Article by Thorben Albrecht

Keine Sicherheitsstrategie ohne ökonomische Dimension

Posted in Rethinking Interdependence
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Spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar: Unternehmen, die EU und die Bundesregierung müssen ein neues Gleichgewicht zwischen den Vorteilen des offenen Handels und dem Abbau strategischer Abhängigkeiten finden.

Unsere Sicherheit lässt sich nicht rein militärisch definieren. Zu einem beachtlichen Teil hängt sie auch von unserer wirtschaftlichen Stabilität ab. Dabei ist wirtschaftlicher Erfolg kein Selbstzweck: Unternehmensgewinne generieren aus sich selbst heraus weder Wohlstand noch Sicherheit. Aber viele Arbeitsplätze – und damit das Ein- und Auskommen von Millionen von Arbeitnehmer:innen in Deutschland – sind von funktionierenden Lieferketten und Exportmärkten abhängig. Das haben die Krisen der vergangenen Jahre schmerzhaft deutlich gemacht. Auch die Binnenmarktnachfrage nach Waren und Dienstleistungen sowie die Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen sind ohne globale wirtschaftliche Stabilität nicht zu gewährleisten. Das aktuellste Beispiel dafür ist eine gute Gesundheitsversorgung, deren Wichtigkeit uns die Pandemie vor Augen geführt hat. Es ist daher auch eine sicherheitspolitische Frage, wie unsere internationalen Wirtschaftsbeziehungen strukturiert sind und ob einseitige Abhängigkeiten vermieden werden können. Die Gestaltung unserer Wirtschaftsbeziehungen muss Teil einer nationalen – und europäischen – Sicherheitsstrategie sein.


» Es gilt ein neues Gleichgewicht zwischen den weiterbestehenden Vorteilen offener Handelsbeziehungen sowie dem Bedürfnis nach Abbau strategischer Abhängigkeiten und einer Stärkung der Versorgungssicherheit zu finden. «

— Thorben Albrecht

Dabei gilt für unsere stark international verflochtene Volkswirtschaft, dass ein vollständiger wirtschaftlicher Rückzug auf Europa oder gar Deutschland weder unserem Wohlstand guttun noch zu globaler Stabilität beitragen würde. Im Gegenteil: In einer idealen Welt würde es offene Märkte mit fairen Regeln für Arbeits- und Umweltbedingungen geben. Diese Regeln wären durch multilaterale Abkommen gesetzt und ihre Einhaltung durch Organisationen wie die WTO und ILO entlang der gesamten globalen Produktions- und Lieferketten gesichert. In der Realität sind kapitalistische Märkte aber krisenanfällig. Schon vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine war die europäische Industrie mit Rohstoffmangel, globalen Überkapazitäten und einem neuen, wachsenden Protektionismus konfrontiert. Durch die Corona-Pandemie wurden und werden zudem die globalen Lieferketten immer wieder unterbrochen – und die Schwachstellen einer zwar hocheffizienten, aber störungsanfälligen Just-in-Time-Produktion aufgezeigt. Die zunehmenden geopolitischen Spannungen und Verwerfungen, nicht zuletzt zwischen China und den USA, setzen die globalen Wirtschaftsbeziehungen zusätzlich unter Druck. Abhängigkeiten von Rohstoffen und Produkten werden ebenso als geopolitische Druckmittel eingesetzt wie wirtschaftspolitische Strategien und Subventionen. Schließlich werden multilaterale Ordnungssysteme, wie die Welthandelsorganisation durch geopolitische Interessenpolitik weiter geschwächt und damit auch die Durchsetzung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten erschwert, die bereits vor den multiplen Krisen vielerorts nicht eingehalten wurden.

Strategien von und für Unternehmen

Vor diesem Hintergrund bedarf es neuer Strategien – auf politischer Ebene ebenso wie von Unternehmen und Gewerkschaften. Es gilt ein neues Gleichgewicht zwischen den weiterbestehenden Vorteilen offener Handelsbeziehungen sowie dem Bedürfnis nach Abbau strategischer Abhängigkeiten und einer Stärkung der Versorgungssicherheit zu finden. Angesichts der oben beschriebenen neuen Herausforderungen sollten folgende Punkte dabei handlungsleitend sein:

Die Unternehmen stehen konkret vor der Aufgabe, ihre Lieferketten resilienter zu gestalten sowie teils auch ihre Exportstrategien neu zu denken. Fairer Handel verspricht zwar weiter Wohlstandsgewinne, aber die effizienzfixierte, globale Ausrichtung der Lieferketten hat ihren Zenit überschritten. Daher diversifizieren Unternehmen ihre Zuliefererstruktur, versuchen also die einseitige Abhängigkeit von einzelnen Zulieferländern zu reduzieren. Mit den Schlagworten Re-Shoring, der Verlagerung der Produktion ins Inland, oder Near-Shoring, der Produktion in der jeweiligen Kontinentalregion, verbinden sich außerdem Versuche, mit der geografischen Nähe eine größere Versorgungssicherheit zu erreichen. Beides wird dazu führen, dass es zu einer globalen Re-Regionalisierung von Wertschöpfungsketten kommt.


» Neben dem europäischen Markt müssen die Wirtschaftsbeziehungen zu demokratischen Staaten ausgebaut werden. Gerade auch mit Ländern in Weltregionen, mit denen der Handel bislang unterentwickelt ist. «

— Thorben Albrecht

Um Risiken zu minimieren, besteht auch die Notwendigkeit, Absatzmärkte zu diversifizieren. Neben dem europäischen Markt, der weiterhin eine überragende Bedeutung für die deutsche Wirtschaft haben wird, müssen die Wirtschaftsbeziehungen zu demokratischen Staaten ausgebaut werden. Gerade auch mit Ländern in Weltregionen, mit denen der Handel bislang unterentwickelt ist. Gegenüber Staaten, deren Entwicklung in politischer und geostrategischer Hinsicht eher problematisch ist, müssen dagegen Abhängigkeiten reduziert werden.

Für die deutsche Industrie sind dabei die Handels‑, Investitions- und Innovationsbeziehungen mit China von enormer Bedeutung – was auch umgekehrt gilt. Für einige namhafte Unternehmen ist der chinesische Markt der weltweit wichtigste Absatzmarkt. Eine schnelle, weitreichende Entflechtung mit der chinesischen Wirtschaft ist derzeit – anders etwa als im Falle Russlands – nicht vorstellbar. Unternehmen müssen neue Strategien entwickeln, um die Vorteile des wirtschaftlichen Austauschs soweit möglich zu erhalten, ohne sich dem Risiko einer allzu großen Abhängigkeit auszusetzen. Diese müssen realistisch bewertet und gegebenenfalls auch zurückgefahren werden.

Auch wenn verschiedene Unternehmen hier sicherlich unterschiedliche Strategien brauchen, gibt es doch einige Aspekte, die insgesamt Berücksichtigung finden sollten. Dazu dürfte in den meisten Fällen ein Ansatz gehören, der sich mit einer Produktion in China für China‘ umschreiben lässt. Das heißt, in China wird nur für den chinesischen Markt produziert, aber nicht für andere globale Märkte oder gar den europäischen Binnenmarkt. Dies ist auch im Sinne von Risikoszenarien notwendig, die aus der Eskalation politischer Konflikte – zum Beispiel um Taiwan – entstehen können. Solche Szenarien müssen in der Risikoanalyse der Unternehmen berücksichtigt werden. Zudem müssen beim Engagement in China, wie auf allen globalen Märkten, relevante Standards in Standorten deutscher Unternehmen zwingend eingehalten werden. Dazu gehört der Verzicht auf Zwangs- und Kinderarbeit ebenso wie das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Letzteres sollte durch politische Maßnahmen wie Lieferkettengesetze forciert und durch eine entsprechende EU-Regelung auf hohem Niveau europäisch vereinheitlicht werden. 


» Beim Engagement in China, wie auf allen globalen Märkten, müssen relevante Standards in Standorten deutscher Unternehmen zwingend eingehalten werden. Dazu gehört der Verzicht auf Zwangs- und Kinderarbeit ebenso wie das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. «

— Thorben Albrecht

Eine europäische Wirtschaftspolitik für die Sicherung der Schlüsselindustrien

Aber auch in anderen Bereichen ist die Politik gefragt. So sind Deutschland und Europa gefordert, ihre Wirtschaftspolitik künftig deutlich aktiver zu gestalten. Die EU beschränkt sich bislang vor allem darauf, vermeintliche Wettbewerbsverzerrungen‘ im Binnenmarkt durch ein Verbot staatlicher Beihilfen zu verhindern. Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass notwendige Investitionen nicht erfolgen, weil staatliche Unterstützung verhindert wird. Das ist vor dem Hintergrund sich verschärfender globaler und geopolitischer Konkurrenz zunehmend problematisch. Vielmehr sollte die EU besondere Schlüsselindustrien für den grünen, digitalen und geopolitischen Wandel identifizieren und im Sinne der strategischen Souveränität fördern. Auch in Zukunft muss Europa nicht alles innerhalb der eigenen Grenzen produzieren, aber es darf bei der Sicherung beziehungsweise der Neuansiedlung von Schlüsselindustrien nicht den Anschluss verlieren. 

Die EU hat hier bereits einige Anstrengungen unternommen. Zu nennen sind die strategischen Förderprojekte zu Gesundheit, Wasserstoff, Cloud und Batterieentwicklung oder das Projekt REPowerEU, das die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu beenden versucht. Gleiches muss aber auch für eine Rohstoffstrategie gelten, die ebenfalls europäisch angelegt werden und einseitige Abhängigkeiten reduzieren sollte. Insbesondere gilt dies für Rohstoffe, die für die Zukunftsfähigkeit der europäischen Industrie essenziell sind – wie Magnesium und seltene Erden. Mit einer Industrie- und Energiepolitik, die vor allem von den EU-Mitgliedsstaaten gestaltet und weitgehend unkoordiniert ist, wird das allerdings kaum gelingen. Hier ist vielmehr eine gemeinsame europäische Politik notwendig, auch um die ökonomische Stärke der EU weiterhin als politischen Faktor in der globalen Politik nutzen zu können. Auch eine stärkere transatlantische Koordinierung – ohne eigene und gegebenenfalls abweichende Interessen von vornherein aufzugeben – erscheint in diesen Zukunftsfeldern ratsam.

Kernpunkte:

  1. Die Nationale Sicherheitsstrategie kommt nicht ohne eine aktiv gestaltete und gesamteuropäisch angelegte Wirtschaftspolitik aus. 
  2. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, ihre Lieferketten resilienter zu gestalten und ihre Absatzmärkte zu diversifizieren.
  3. Auf allen globalen Märkten müssen deutsche Standorte zwingend relevante Arbeiternehmer:innenrechte einhalten. 

Die Stärke der EU nutzen

Insgesamt stellt sich die Frage nach künftig sinnvollen internationalen Kooperationen und EU-Handelsabkommen. Auch wenn faire multilaterale Verträge zur Ausgestaltung der globalen Handelsbeziehungen klar zu präferieren sind, so sind umfassende funktionierende multilaterale Abkommen leider auf absehbare Zeit wenig realistisch. Daher werden wir um eine erneute Debatte über bilaterale EU-Handelsabkommen nicht herumkommen. Hier besteht auch für Gewerkschaften, wie für die Zivilgesellschaft, die Notwendigkeit, anhaltende, häufig kritisch bis ablehnende Positionen auf den Prüfstand zu stellen. Denn auch bilaterale Handelsabkommen können eine positive Rolle im Welthandelssystem spielen. Allerdings nur wenn sie demokratisch transparent verhandelt werden sowie Mindeststandards bei sozialen und ökologischen Regeln beinhalten und diese Regeln den Status quo verbessern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine nationale Sicherheitsstrategie nicht ohne eine ökonomische Dimension auskommen kann und von Anfang an europäisch gedacht werden muss. Gerade mit dem EU-Binnenmarkt, einer zukünftig gesamteuropäisch angelegten Wirtschaftspolitik und der EU-Kompetenz in der Handelspolitik besteht die Chance, die wirtschaftliche Stärke Europas im Sinne der europäischen und deutschen Sicherheit zu nutzen.


Thorben Albrecht

Leiter Politik, IG Metall

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