Für eine Nationale Friedens- und Sicherheitsstrategie
Deutschland muss innerhalb internationaler Organisationen endlich glaubwürdig Verantwortung übernehmen. Um dabei effektiv zu Stabilität beizutragen, sind Koalitionen und Partnerschaften erfolgskritisch.
Aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 fordern Sie eine Reevaluierung außen- und sicherheitspolitischer Prioritäten. In welchen Bereichen muss Deutschland am dringendsten nachsteuern?
Deutschland muss offensichtlich seine Wehrfähigkeit wiederherstellen. Das wäre allerdings schon vor Februar 2022 richtig gewesen. Wehrfähigkeit ist einerseits eine Frage nach Ausrüstung, Aufstellung und Ausbildung der Bundeswehr im Bündnis, aber auch nach einem Grundverständnis der nationalen Bedrohungslage. Einiges hat sich nicht geändert, wie die Notwendigkeit des vernetzten Handelns und einen vielfältigen Instrumentenkasten zu pflegen, in dem die zivilen Instrumente eine gewichtige Rolle spielen. Wir stehen auch vor der Herausforderung, gemeinsam mit den europäischen Partner:innen zügig eine deutlich ambitioniertere und auch handlungsstärkere Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu entwickeln. Das schließt viele Reevaluierungen im Hinblick auf die Prioritäten in der GSVP und ihrer Einsätze ein. Was ist zielführend? Was ist effizient und erzielt tatsächlich Wirkungen? Was kann man reduzieren, schließen oder auch an andere Akteure übertragen?
» Ich würde mir wünschen, dass wir nicht eine Nationale Sicherheitsstrategie verabschieden, sondern eine Nationale Friedens- und Sicherheitsstrategie. «
Wie kann Friedenspolitik als Teil der deutschen Sicherheitsstrategie in Zeiten von Krieg in Europa und dem globalen Großmachtkonflikt aussehen?
Ganz praktisch würde ich mir wünschen, dass wir nicht eine Nationale Sicherheitsstrategie verabschieden, sondern eine Nationale Friedens- und Sicherheitsstrategie. Wir sollten ‚Frieden‘ in den Titel mitaufnehmen, um damit zu bekräftigen, dass Frieden und Sicherheit auch in Zeiten geopolitischer Rivalität zusammengedacht werden. Wir müssen zusammen mit Partner:innen analysieren, wo und mit welchen Mitteln wir zu Frieden und Stabilität beitragen können und wollen. Zu diesen Partner:innen gehören andere EU-Mitgliedsstaaten, aber insbesondere auch die Gesellschaften, in denen sich die Krisen und Konflikte abspielen. Mit diesen Gesellschaften über ihre Vision einer Transformation des Konfliktes in Verbindung zu bleiben ist kein ‚Nice-to-have‘, sondern erfolgskritisch.
Frieden wird nicht mit dem Freund geschlossen. Friedenspolitik kann und sollte das Zielbild der deutschen Sicherheitsstrategie bleiben.
In Afghanistan und Mali wurde in den letzten Jahren deutlich, wie schwierig es ist, mit militärischen und zivilen Mitteln langfristige Demokratie und Stabilisierung zu erreichen. Mit welchen Zielen und Mitteln sollte Deutschland in diesen Kontexten angesichts veränderter Prioritäten zukünftig agieren?
Deutschland sollte sich politisch noch stärker einsetzen und auch im Rahmen internationaler Organisationen dafür plädieren, dass der politische Prozess in den Mittelpunkt rückt. Viele Demokratisierungs- und Stabilisierungseinsätze sind nicht falsch. Aber es ist wichtig zu definieren, was im jeweiligen Kontext realistische Ziele sind. Diese müssen auch national und unter unterschiedlichen staatlichen und nicht-staatlichen Gruppen kommuniziert und verankert sein. Mögliche andere Messages oder Ziele könnten sein, unsere Partner:innen auch dort, wo es um militärische und sicherheitspolitische Unterstützung geht, sehr umsichtig auszuwählen. Und Partnerschaften bei problematischen Entwicklungen, wie zuletzt in Mali, kritisch und mutig zu reevaluieren. In Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen sollten wir in noch längeren Zeiträumen denken, sonst laufen wir Gefahr, dass Erfolge und Errungenschaften schnell wieder verloren gehen.
» Außen- und sicherheitspolitische Themen sollten präsent und sichtbar sein in der öffentlichen Debatte, die heute auch größtenteils in den sozialen Medien stattfindet. Dabei müssen wir mit hartnäckiger Geduld darauf achten, komplexe Zusammenhänge so darzustellen, dass sie zugänglich und verständlich werden. «
Blockaden ständiger Mitglieder legen den UN-Sicherheitsrat schon seit Jahren lahm und auch eine einige, handlungsfähige EU ist kein Selbstläufer. Wie kann Deutschland als größter multilateraler Geber im Bereich Krisenprävention seine Mittel einsetzen, um einen Unterschied zu machen?
Allgemein sollte man breitere Koalitionen aufbauen. Dazu gibt es Gelegenheiten bei Themen, die besonders Länder aus dem sogenannten Globalen Süden bewegen, zum Beispiel mit Fokus auf die Auswirkungen der Klimaänderungen. Eine weitere Idee kann auch sein, in kleineren Gruppen von Ländern bestimmte Themen voranzutreiben, auch wenn sie sich der Sicherheitsrat nicht zu eigen macht. Das passiert bereits teilweise und sehr vielversprechend im Rahmen von ‚Freundesgruppen‘, etwa der ‚Group of Friends on Climate and Security‘, initiiert durch Deutschland. Klimawandel betrifft verfeindete Teile einer Gesellschaft gleichermaßen. Das kann auch eine Chance sein, wieder miteinander zu sprechen und Verabredungen zu treffen. Wir sollten dabei ganz neue Formate in Betracht ziehen.
Das Allerwichtigste ist aber, dass Deutschland endlich einen Geltungsanspruch formuliert, die damit verbundene Verantwortung trägt und beides mit Ressourcen und Glaubwürdigkeit hinterlegt. Zum Beispiel mit der Entsendung von mehr qualifiziertem Personal, auch und gerade in Führungspositionen. Das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) wird dazu seinen Beitrag leisten.
Kernpunkte:
- Sicherheitspolitik muss auch in Zeiten von Krieg und Großmachtrivalität als Friedenspolitik gedacht werden.
- Breitere Koalitionen, nicht nur mit Verbündeten, sondern auch mit von Konflikt betroffenen Gesellschaften und zwischen verfeindeten Gruppen sind zentral für Stabilisierung und Frieden.
- Bei der öffentlichen Debatte über außen- und sicherheitspolitische Ziele gilt: auch in den sozialen Netzwerken komplexe Zusammenhänge zugänglich darstellen und nicht nur hinter verschlossenen Türen diskutieren.
Die Auswirkungen der Zeitenwende gehen weit über traditionelle Sicherheitspolitik hinaus. Wie können Politik und Expert:innen dazu beitragen, dass Außen- und Sicherheitspolitik breiter diskutiert und demokratisch legitimiert werden?
Als Historikerin finde ich den Begriff ‚Zeitenwende‘ ziemlich groß und vielleicht auch etwas voreilig. Erst nachfolgende Generationen werden das wirklich beurteilen können. Und die Beurteilung wird vermutlich stark vom geographischen Standpunkt abhängen. Der ‚Weckruf‘ der ‚Zeitenwende‘ ist aber richtig, denn es gibt vermutlich für lange Zeit kein ‚back to normal‘ für uns.
Außen- und sicherheitspolitische Themen sollten präsent und sichtbar sein in der öffentlichen Debatte, die heute auch größtenteils in den sozialen Medien stattfindet. Dabei müssen wir mit hartnäckiger Geduld darauf achten, komplexe Zusammenhänge so darzustellen, dass sie zugänglich und verständlich werden. Eine deutsche feministische Außenpolitik kann als eine handlungsleitende Grundlage für Konfliktprävention und Krisenmanagement von großem Nutzen sein. Wenn ich nun möchte, dass dieses Rational einer feministischen Außenpolitik verstanden wird, muss ich gerade dorthin gehen, wo es Zweifel, Vorurteile und Widerstände gibt. Ohne eine Innenpolitik, die die Idee mitträgt, wird es schwer bleiben. Diesbezüglich haben wir auch in Deutschland noch Hausaufgaben vor uns. Die Ausweitung von neuen Formaten auch auf außen- und sicherheitspolitische Themen, wie den Bürger:innendialogen dieses Jahres zur Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie, stellen meiner Einschätzung nach ganz zentrale Ansätze dar. Wichtig scheint mir: die Themen in der Fläche zu diskutieren und sich von Liebgewonnenem oder Bequemem zu verabschieden, wie der Konzeptdebatten nur hinter verschlossenen Türen. Und ich sehe, dass wir an dieser Stelle auf einem guten Weg sind.
Astrid Irrgang
Geschäftsführerin, Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF)
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