Dringend benötigt: Feministische Außenpolitik und menschliche Sicherheit
Die europäische Energiepolitik unterstützt nicht nur autokratische Regime und finanziert Kriege. Sie zeigt auch, dass ein Sicherheitsverständnis, das nur staatliche Strukturen schützt, ausgedient hat.
Aktuell laufen zwei bedeutsame politische Prozesse parallel. Zum einen entwickelt die Ampelkoalition eine neue Nationale Sicherheitsstrategie, zum anderen sollen Leitlinien für eine feministische Außenpolitik entwickelt werden. Diese beiden Prozesse sollten viel stärker miteinander verbunden werden. Denn der Nationalen Sicherheitsstrategie sollte – so wie der feministischen Außenpolitik — ein erweitertes Verständnis von Sicherheit zugrunde liegen.
Wir leben in einer Zeit, in der Sicherheitspolitik als Friedenspolitik zusammengedacht werden muss mit Klimaschutz, Ressourcenschutz, sozialer und globaler Gerechtigkeit sowie Sicherheit inner- und außerhalb Europas. Der Krieg in der Ukraine zeigt gnadenlos, wie eng Energiesicherheit mit Außen- und Sicherheitspolitik verwoben ist und wo es an Kohärenz der drei Politikfelder fehlt. Nicht erst seit Ausbruch des Krieges wurden energie- und sicherheitspolitische Entscheidungen getroffen, die ein ausgedientes Verständnis von Sicherheit und Außenpolitik offenlegt und deren Konsequenzen erneut zukünftige Generationen treffen werden. Wenn wir aber unter Sicherheit wirklich den Zustand verstehen, der uns frei von Sorgen um essenzielle Lebensgrundlagen lassen soll, dann wird gerade wenig getan, um diese zu fördern. Dieser Beitrag zeigt Beispiele auf, wie Entscheidungsträger:innen auf Krisen mit zunehmender Militarisierung und der Suche nach neuen Lieferant:innen für fossile Brennstoffe reagieren. Dabei wenden sie sich von Klimaverpflichtungen und Abrüstung ab.
Konzepte für eine nationale Sicherheitsstrategie
Es gibt zwei Konzepte, die der zunehmenden Militarisierung und der Abwendung von Klimaverpflichtungen entgegenwirken und angemessener für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind: das Konzept ‚menschliche Sicherheit‘ und feministische Außenpolitik. Das Konzept menschliche Sicherheit nimmt nicht nur die Sicherung staatlicher Strukturen in den Blick. Vielmehr liegt der Fokus auf unterschiedlichen Maßnahmen, wie auf vielfältige Formen von Unsicherheit, etwa soziale Ungerechtigkeit, Hunger, Armut oder Umweltkatastrophen, reagiert werden kann (siehe GA Resolution 66/290). Menschenrechte, Friedenssicherung, menschliche Entwicklung und Konfliktprävention müssen zusammengedacht werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf präventiven Maßnahmen. Um Frieden zu sichern, müssen die Bedürfnisse der Menschen und nicht die des Staates in den Vordergrund gestellt werden. Dazu gehört auch eine intakte Umwelt. Eine nachhaltige Sicherheitspolitik mit dem Fokus auf menschliche Sicherheit muss also in erster Linie die Befähigung der Zivilbevölkerung im Fokus haben. Damit die Zivilbevölkerung frei agieren kann, muss sie sich auf rechtsstaatliche Strukturen verlassen können und eine Garantie für ihre essentiellen Lebensgrundlagen haben. Dazu gehört der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem sowie Maßnahmen gegen die Klimakrise und gegen weltweite Pandemien.
» Um Frieden zu sichern, müssen die Bedürfnisse der Menschen und nicht die des Staates in den Vordergrund gestellt werden. «
Einen ähnlichen Anspruch erhebt feministische Außenpolitik an die Politik eines Staates, „der seine Interaktionen mit anderen Staaten sowie mit Bewegungen und anderen nichtstaatlichen Akteuren so gestaltet, dass Frieden, Gleichberechtigung der Geschlechter und ökologische Integrität Vorrang haben, die Menschenrechte aller geachtet, gefördert und geschützt werden, koloniale, rassistische, patriarchale und männerdominierte Machtstrukturen aufgebrochen und erhebliche Ressourcen, einschließlich für Forschung, zur Verwirklichung dieser Vision bereitgestellt werden. Feministische Außenpolitik ist kohärent in ihrem Ansatz über alle ihre Einflussmöglichkeiten hinweg und dadurch verankert, dass diese Werte im eigenen Land gelebt werden.” Feministische Außenpolitik ergänzt das Konzept der menschlichen Sicherheit darum, transformativ, intersektional und dekolonial zu wirken.
Welchen Einfluss diese beiden Konzepte auf die Politikgestaltung haben können, soll anhand zweier wichtiger Themenfelder – Auswirkungen der aktuellen deutschen Energiepolitik und zunehmende Militärausgaben – genauer beleuchtet werden.
Die falschen Prioritäten in der Energiesicherheit
Ein Beispiel aus der Zeit vor dem Krieg gegen die Ukraine ist Aserbaidschan. Der militärische Sieg Aserbaidschans über Armenien 2020, der nach einem jahrzehntelangen militärischen Patt durchaus überraschend kam, ist einer massiven Aufrüstung der aserbaidschanischen Streitkräfte zu verdanken. Finanziert wurde diese durch Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl und Erdgas. Im Jahr 2020 machten Erdöl, ‑gas und Rohöl über 80% des Gesamtexports Aserbaidschans aus. Über 40% der fossilen Energien gingen an die EU. Im Kriegsjahr 2020 lieferte Aserbaidschan Erdöl und Erdölprodukte im Wert von knapp 6,3 Milliarden Euro in die Union. Im Jahr zuvor – dem Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie und dem damit einhergehenden Einbruch der Weltwirtschaft – waren es sogar mehr als 10 Milliarden Euro. Zum Vergleich: 2020 belief sich der Militärhaushalt Aserbaidschans auf gut 2,2 Milliarden US-Dollar. Ob die Kriege in der Ukraine oder in Aserbaidschan ohne den Kapitaltransfer aus der Bundesrepublik und der EU ausgeblieben wären, lässt sich nicht seriös beantworten. Sicher ist aber, dass die Aufrüstung ohne die Milliarden, die für den Kauf von Erdöl und Erdgas nach Moskau und Baku flossen, geringer und die Intensität der Kriegführung schwächer ausgefallen wären.
Der Ausbruch des Kriegs in der Ukraine hat die Abhängigkeit Europas von russischen fossilen Brennstoffen in vollem Umfang offenbart. Aktuell suchen deutsche und europäische Regierungen also nach weiteren Gas‑, Öl- und LNG-Lieferanten. Diese Bemühungen sind aber nicht nur aus umweltpolitischen Aspekten kritisch zu bewerten. Erst kürzlich wurde ein Memorandum zwischen der EU und Aserbaidschan abgeschlossen, das die Gaslieferungen absichern soll. In den nächsten fünf Jahren soll Aserbaidschan doppelt so viel Gas an die EU liefern wie bisher. Ungeachtet der Kritik, dass die Ausweitung der Gasförderung nur das autokratische Regime in Aserbaidschan bereichern wird, das für Korruption und Unterdrückung steht.
» Die schmutzigsten Teile und zerstörerischsten Auswirkungen der Lieferkette für fossile Brennstoffe scheinen an rassifizierte und marginalisierte Gemeinschaften mit der geringsten sozioökonomischen und politischen Autonomie ausgelagert zu werden. «
Problematisch ist der europäische Energiehandel zudem aufgrund der direkten negativen Auswirkungen in den Erzeugerländern durch den Abbau fossiler Brennstoffe. Nicht nur die EU, sondern die Industrieländer insgesamt lagern diese Schäden an rassifizierte und marginalisierte Gemeinschaften auf der ganzen Welt aus. Grundlage dafür ist letztlich das globale Klassensystem zwischen ehemaligen Kolonialmächten und kolonialisierten Gesellschaften, das bis heute Ungerechtigkeit zementiert. Es wird aktiv aufrechterhalten durch die neokoloniale „Montagelinie” der Energieerzeugung. Ein Beispiel hierfür ist die aktuelle Debatte um die deutsche Unterstützung eines Projektes zur Gasgewinnung vor der Küste Senegals. Auch werden für Deutschland aktuell Erdgaslieferungen aus den USA in Erwägung gezogen. Ein Blick zeigt aber den engen Zusammenhang zwischen fossilen Brennstoffen und Menschenrechten dort: Die schmutzigsten Teile und zerstörerischsten Auswirkungen der Lieferkette für fossile Brennstoffe scheinen an rassifizierte und marginalisierte Gemeinschaften mit der geringsten sozioökonomischen und politischen Autonomie ausgelagert zu werden. Ein Bericht von Greenpeace zeigt auf, dass die fossile Brennstoffindustrie zu Schäden an der öffentlichen Gesundheit beiträgt. Jedes Jahr töten die Folgen dieser Schäden Hunderttausende von Menschen in den USA und gefährden dabei unverhältnismäßig oft Schwarze, Indigene und die Ärmsten der Gesellschaft. Der Gewinn konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf die weiße Mehrheitsgesellschaft. Dabei wäre ein großer Teil des zerstörerischen Abbaus nicht nötig: Allein der Gas-Verbrauch der G7-Staaten könnte sich in drei Jahren um circa ein Fünftel senken lassen.
» Militärische Aufrüstung ist keine Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Das Sondervermögen wird Deutschland geopolitisch nicht stärken. «
Statt Waffen: Investitionen in kohärente Politik für menschliche Sicherheit
Ein weiteres Politikfeld, in dem deutlich wird, dass Aspekte menschlicher Sicherheit und feministischer Außenpolitik missachtet werden, ist Aufrüstung. Der Fokus auf Waffen ist eine Stärkung der staatlichen Machtposition gegenüber der Zivilbevölkerung. Menschliche Sicherheit stellt aber nicht die militärische Sicherheit in den Fokus. Auch die feministische Außenpolitik fordert eine nachhaltige Abrüstungspolitik. Hier besteht ein deutlicher Widerspruch zwischen dem deutschen Bekenntnis zur feministischen Außenpolitik und dem aktuellen Beschluss für eine massive Aufrüstung der Bundeswehr durch 100 Milliarden ‚Sondervermögen‘.
Militärische Aufrüstung ist keine Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Das Sondervermögen wird Deutschland geopolitisch nicht stärken. Möglicherweise werden auch die militärischen Ziele nicht erreicht. Wird das Beschaffungswesen nämlich nicht radikal reformiert, könnten bis zu einem Drittel des Geldes verschwendet werden. Ob das geplante Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz dem Rechnung trägt, bleibt abzuwarten.
Gleichzeitig sieht der Haushaltsplan für 2023 Kürzungen von rund 1,27 Milliarden Euro für die Entwicklungsarbeit vor. Zwar können einige dieser geplanten Einbußen durch Mittel für die Krisenvorsorge im Einzelplan 60 abgefedert werden. Aber es ist fraglich, ob und wie der Zugriff auf diese Mittel tatsächlich gewährleistet werden kann. Auch die von den G7-Staaten zugesicherten 600 Milliarden Euro für erneuerbare Energien bis 2027 (für die nächsten fünf Jahre) sind ein schwacher Anfang. Allein der Bedarf an Investitionen in erneuerbare Energien der G7-Staaten wird weit über 1.000 Milliarden Euro jährlich liegen. Es wird also offensichtlich: Das Geld, das zu viel in das Militär investiert wird, fehlt an anderer Stelle.
Kernpunkte:
- Der alleinige Fokus auf die Absicherung staatlicher Strukturen entspricht einem ausdienten Verständnis von Sicherheit. Für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts müssen der Nationalen Sicherheitsstrategie die Konzepte der ‚menschlichen Sicherheit‘ und der feministischen Außenpolitik zugrundliegen.
- Beispiele wie Aserbaidschan und Ukraine zeigen, wie problematisch der europäische Erdgashandel ist. Er finanziert autokratische Regime und lagert die schädlichen Konsequenzen fossiler Brennstoffe auf marginalisierte und rassifizierte Gemeinschaften aus.
- Das Sondervermögen riskiert, dass in relevanten und transformativen Bereichen wie der Entwicklungszusammenarbeit oder dem Klimaschutz Geld gekürzt wird.
Was Deutschland stattdessen dringender denn je benötigt, ist ein Wandel hin zu einer Politik, die unterdrückende Regierungssysteme bekämpft. Menschliche Sicherheit und feministische Außenpolitik stellen zusammengedacht nicht nur das Individuum in den Vordergrund. Sie untersuchen auch einen politischen Prozess daraufhin, ob Frieden, Gleichberechtigung der Geschlechter und ökologische Integrität Vorrang haben und die Maßnahmen transformativ, intersektional und dekolonial wirken. Dafür gibt es aktuell einen politischen Raum, der genutzt werden muss – denn immer mehr Regierungen erkennen die Notwendigkeit einer feministischen Außenpolitik an. Konkret ist also die Aufgabe, sich aktuelle politische Prozesse wie die Nationale Sicherheitsstrategie, Energiesicherheitspolitik oder Haushaltsplanungen genau anzuschauen und einen transformativen Ansatz im Sinne einer feministischen Außenpolitik zu integrieren: Welche Konsequenzen hat ein Rüstungsexportkontrollgesetz, das geschlechtsbezogene Gewalt bei Exportentscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt? Welche Punkte sind entscheidend für einen transformativen und geschlechtergerechten Haushaltsplan? Wie kann eine geschlechtergerechte und dekoloniale Energie- sowie Klimasicherheit und ‑gerechtigkeit aussehen? Für die Ampelkoalition bietet sich jetzt eine große Chance zu zeigen, wie eine feministische Regierung aussehen kann. Für die Menschen, die direkt von den Konsequenzen deutscher Außenpolitik betroffen sind, wäre das ein großer Fortschritt — eine positive, notwendige Zeitenwende.
Anna von Gall
Politikkampaignerin und Projektleiterin, Greenpeace Deutschland
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