Article by Joybrato Mukherjee

Die Wissenschaft muss sich ihrer Bedeutung für die nationale Sicherheit bewusst sein

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(Gabriel Sollmann /​Unsplash)

Posted in Rethinking Interdependence
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Deutsche Außenwissenschaftspolitik schafft das nötige Vertrauen zwischen Wissenschaftler:innen, um Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft zu erarbeiten. Sie ist die harte Währung im Aufbau einer neuen internationalen Ordnung.

Bei der Tagung des German Academic International Network (GAIN) Anfang September kamen in Bonn viele junge exzellente Wissenschaftler:innen aus aller Welt zusammen. Wie jedes Jahr war GAIN ein Ort des intensiven Austausches, doch angesichts des Kriegs in der Ukraine wurden in den Gesprächen viele grundsätzliche Fragen gestellt: zur Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik, zu Deutschlands Verhältnis zu herausfordernden Partnerländern und zum Großen und Ganzen der Science Diplomacy.

Ich habe es als ausgesprochen ermutigend empfunden, dass so viele GAIN-Teilnehmer:innen ein großes Interesse an ihrer eigenen Rolle als Science Diplomats gezeigt haben. Diese Erfahrung bestätigt meinen Eindruck, dass der Wissenschaftsdiplomatie in einer Zeit tektonischer Verschiebungen in der Geopolitik ein neues außenpolitisches Gewicht zukommt – und dass die Wissenschaft sich dieses neuen Gewichtes bewusst werden muss.


» Es ist hilfreich und geboten, dass die Wissenschaft auch ihrerseits ihre Rolle und ihren Beitrag zur nationalen Sicherheit beschreibt und erfasst – und zwar im Sinne eines umfassenden Sicherheitsbegriffs. «

— Joybrato Mukherjee

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat die Bedeutung der Außenwissenschaftspolitik, des grenzüberschreitenden Austausches von Studierenden, Forschenden und Lehrenden sowie der internationalen Zusammenarbeit in der Wissenschaft in den vergangenen Monaten an verschiedenen Stellen zum Ausdruck gebracht, unter anderem bei ihrer Rede zur Erstellung einer Nationalen Sicherheitsstrategie am 18. März. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich und geboten, dass die Wissenschaft auch ihrerseits ihre Rolle und ihren Beitrag zur nationalen Sicherheit beschreibt und erfasst – und zwar im Sinne eines umfassenden Sicherheitsbegriffs.

Drei Schlaglichter der deutschen Wissenschaftsdiplomatie

Was können internationaler Austausch und grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Wissenschaft leisten? Drei Schlaglichter sollen an dieser Stelle genügen: das Erasmus-Programm, Globale Zentren für Gesundheit und Pandemievorsorge sowie für Klima und Umwelt und Förderprogramme für verfolgte Wissenschaftler:innen.

2022 feiern wir 35 Jahre Erasmus-Programm. Dieses weltweit einzigartige europaweite Programm zur Förderung des Austausches ist ein Erfolgsmodell, an dem bereits eine Million deutsche Studierende teilgenommen haben. Es trägt dazu bei, dass unter jungen Menschen eine europäische Identität durch Begegnung und Verständigung entstehen kann. Mehr noch: Wenn Erasmus-Studierende im europäischen Ausland in andere Sprach- und Kulturgemeinschaften eintauchen, Perspektivwechsel einüben, eigene Werte vertreten und interkulturelle Aushandlungsprozesse gestalten, dann sind sie bereits als Science Diplomats unterwegs. Sie schaffen mit ihren europäischen Kommiliton:innen durch gemeinsames Lernen und gemeinsame Projekte eine Vertrauensbasis auch zwischen europäischen Gesellschaften und Staaten. Ein Vertrauen, das wir brauchen, wenn wir als Europäer:innen den großen Herausforderungen wie der Sicherstellung der Energieversorgung und der Entwicklung hin zur Klimaneutralität gemeinsam begegnen wollen.


» Wenn Erasmus-Studierende im europäischen Ausland in andere Sprach- und Kulturgemeinschaften eintauchen, Perspektivwechsel einüben, eigene Werte vertreten und interkulturelle Aushandlungsprozesse gestalten, dann sind sie bereits als Science Diplomats unterwegs. «

— Joybrato Mukherjee

Die vom DAAD mit Mitteln des Auswärtigen Amtes eingerichteten Globalen Zentren für Gesundheit und Pandemievorsorge sowie für Klima und Umwelt bieten neue Plattformen für einen wissenschaftlichen Austausch zwischen jungen Wissenschaftler:innen aus Deutschland und Staaten im sogenannten Globalen Süden. In diesen Zentren wird das praktiziert, was für unsere Außenwissenschaftspolitik handlungsleitend sein sollte: eine an gemeinsamen Forschungs- und Erkenntnisinteressen ausgerichtete, freie wissenschaftliche Kooperation, in der sich die beteiligten Individuen und Institutionen gleichberechtigt begegnen. Eine solche partnerschaftliche Zusammenarbeit zu den großen Herausforderungen unserer Zeit schafft wechselseitiges Vertrauen, das wiederum die gemeinsame Sicherheit auf diesem einen Planeten erhöhen kann. In den neuen Zentren zeigt sich wie in zahlreichen anderen internationalen Bildungsprojekten, dass wissenschaftlicher Austausch zur nachhaltigen Entwicklung der Weltgesellschaft und damit zur globalen Sicherheit beitragen kann.

Kernpunkte:

  1. Wissenschaftsdiplomatie ist keine Form von Soft Power mehr. Internationaler akademischer Austausch und wissenschaftliche Kooperation sind notwendig, um globale Herausforderungen wie Energiesicherheit und Klimawandel zu bewältigen.
  2. Es ist wichtig, dass sich Individuen und Institutionen beim Forschungs- und Erkenntnisaustausch auf Augenhöhe begegnen. Ein Ausschluss Andersdenkender oder unfreier‘ Staaten ist keine Lösung. Die aktuelle Isolation Russlands ist hier ein extremer Ausnahmefall.

Die Alexander von Humboldt-Stiftung startete mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes 2016 die Philipp-Schwartz-Initiative. Die Initiative ist seitdem ein stark nachgefragtes Förderprogramm für verfolgte Wissenschafter:innen weltweit, die Zuflucht in Deutschland suchen und die von deutschen Hochschulen für einen akademischen Aufenthalt in Deutschland nominiert werden. Angesichts der deutschen Verbrechen in der Nazi-Zeit ist es eine für die ganze Welt bemerkenswerte Entwicklung, dass wir mit diesem nach einem jüdischen, von den Nazis entrechteten und vertriebenen Wissenschaftler benannten Programm denjenigen Hilfe anbieten, die vor autoritären und totalitären Regimen in ihren Heimatländern fliehen. Gleiches gilt für das Hilde Domin-Programm für verfolgte Studierende und Promovierende, das der DAAD seit 2020 anbietet. Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen mit Geförderten beider Programme, dass sie sich in Deutschland zum ersten Mal sicher fühlen. Sollten es die Verhältnisse zulassen, werden viele von ihnen in ihre Heimatländer zurückkehren wollen und dort bei der Weiterentwicklung oder beim Wiederaufbau ihres Landes helfen, und zwar als Freund:innen Deutschlands. Solche Freund:innen in der Welt sorgen dabei langfristig auch für Deutschlands Sicherheit.

Vertrauensvolle Kooperationen für die globalen Herausforderungen

Was ich mit nur drei Beispielen aus dem Kosmos des individuellen akademischen Austausches und der institutionellen wissenschaftlichen Zusammenarbeit verdeutlichen will, ist eine vielleicht banale Erkenntnis: In all diesen Kontexten entsteht Vertrauen, helfen wir dabei, Vertrauen aufzubauen, zeigen wir uns als Bundesrepublik Deutschland vertrauenswürdig und verlässlich. Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass sich Deutschland auch über seine dritte Säule‘ der Außenpolitik – also die Auswärtige Kultur‑, Bildungs- und Wissenschaftspolitik – seit vielen Jahrzehnten weltweit einen sehr guten Ruf erarbeitet hat. Dies belegt zum Beispiel die Studie Außenblick – Internationale Perspektiven auf Deutschland in Zeiten von Corona” (2021), die von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, dem DAAD und dem Goethe-Institut erstellt wurde.


» Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass sich Deutschland auch über seine ‚dritte Säule‘ der Außenpolitik – also die Auswärtige Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik – seit vielen Jahrzehnten weltweit einen sehr guten Ruf erarbeitet hat. «

— Joybrato Mukherjee

Unser außenwissenschaftspolitisches Ziel muss es daher sein, mit Hilfe dieses gewachsenen Vertrauens in uns die gemeinsame Basis für die vertrauensvolle Kooperation mit anderen zu verbreitern oder sogar erst aufzubauen. Und auf Basis dieser vertrauensvollen Zusammenarbeit wissenschaftliche Beiträge zur Lösung der globalen Herausforderungen zu erarbeiten. All das kann nur durch Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit zwischen Individuen und Institutionen gelingen.

Dies gilt dabei ausdrücklich auch im Umgang mit Staaten und Gesellschaften, die nicht oder nur teilweise unsere Wertvorstellungen, unsere Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit sowie von Meinungs‑, Presse- und Wissenschaftsfreiheit teilen. Wir dürfen dabei nicht blauäugig sein: Natürlich gibt es Staaten, die wissenschaftlichen Austausch mit uns betreiben wollen, um ganz andere Ziele zu erreichen, etwa um auf illegalem Weg einen Wissens- und Technologieabfluss zu organisieren oder um auf kulturimperialistische Weise Narrative über das eigene Land zu prägen. Doch selbst dann muss unser Anspruch sein, auszuloten, welche Formen der Kooperation für beide Seiten sinnvoll und akzeptabel sind – und welche nicht. Mit den allermeisten Staaten dieser Welt sollten wir – um unserer eigenen Sicherheit willen – in solche Aushandlungsprozesse eintreten. Abschottung und Nichtkooperation sind angesichts der gigantischen planetaren Herausforderungen, denen die Menschheit gemeinsam gegenübersteht, keine Alternativen, die unsere Welt und auch unser eigenes Land sicherer machen würden.

Die derzeitige Konstellation mit Russland – ein Staat manövriert sich durch einen völkerrechtswidrigen Überfall auf seinen souveränen Nachbarn in eine selbstverschuldete Isolation und löst damit selbst den Abbruch aller institutionellen Beziehungen auch in der Wissenschaft aus – ist dabei eine absolute Ausnahme. Aber auch hier ist der Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Vertrauen und Sicherheit sichtbar, wenn auch in zwangsläufig negativer Form.

Die harte Währung der internationalen Zusammenarbeit

Wissenschaftlicher Austausch – Vertrauen – Sicherheit: Dieser Dreiklang verdeutlicht, dass internationaler akademischer Austausch und weltweite wissenschaftliche Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert nicht mehr als Formen einer Soft Power angesehen werden sollten. Die hybride Kriegsführung Russlands zeigt auf furchterregende Weise, wie neben militärischen Instrumenten unter anderem Information und Desinformation, der Cyberspace und Energie zu sicherheitspolitisch relevanten Handlungsfeldern geworden sind. Auch die Wissenschaft ist, ob sie will oder nicht, ein sicherheitspolitisch relevantes Handlungsfeld. Sie ist eine harte Währung‘ in der internationalen Zusammenarbeit. Nicht ohne Grund ist für manche Staaten eine global führende Rolle in Forschung und Technologie integraler Bestandteil einer Grand Strategy zur Verteidigung oder Erlangung einer Weltmachtposition.

Unser Verständnis von einem freien und partnerschaftlichen wissenschaftlichen Austausch und von einer auf fairen Interessensausgleich bedachten außenwissenschaftspolitischen Haltung müssen wir in die Entwicklung einer neuen multilateralen Ordnung einbringen. Einer Ordnung derjenigen Staaten, die das Völkerrecht achten und gleichberechtigt miteinander umgehen wollen. Wir können damit in einer komplexen Welt einen signifikanten Beitrag zu mehr Sicherheit leisten.


Joybrato Mukherjee

Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Justus-Liebig-Universität Gießen

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