Deutschlands Fahrplan zu einer atomwaffenfreien Welt

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Die Bundesregierung muss dem gestiegenen Risiko eines Atomwaffeneinsatzes mit nuklearer Abrüstung und Deeskalation begegnen. So legt sie den Fokus auf menschliche Sicherheit, statt auf veralteten Waffen zu beharren.

Die Ausgestaltung einer Nationalen Sicherheitsstrategie bietet die Chance, ein umfassendes Sicherheitsverständnis zu entwickeln, das die menschliche Sicherheit der Bürger:innen stärkt und nukleare Abrüstungsprozesse auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene ausgestaltet. Nur so kann das im Koalitionsvertrag beschriebene Ziel einer atomwaffenfreien Welt” und damit einhergehend ein Deutschland frei von Atomwaffen” erreicht werden. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verdeutlicht, dass das jahrzehntelange Festhalten an der nuklearen Abschreckung keine Sicherheit für die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts bietet. 

Kernpunkte:

  1. Atomwaffen sind ein existenzielles Risiko für Deutschland und Europa. Deshalb sollte die Bundesregierung die nukleare Teilhabe in der NATO beenden und sich für nukleare Abrüstung einsetzen.
  2. Deutschland sollte dem UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen beitreten.
  3. Der Einsatz selbst von taktischen‘ Atomwaffen hätte verheerende Folgen für die menschliche Sicherheit. Die Atomtests der Vergangenheit zeigen, dass die Auswirkungen besonders Frauen und marginalisierte Gruppen schaden. 

Akute Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes

Das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes ist im vergangenen Jahr stark gestiegen. Russland droht mit Atomwaffen als Antwort auf militärische Unterstützung für die Ukraine; Nordkorea testet Langstreckenraketen und alle neun Atomwaffenstaaten investieren in ihre bestehenden Arsenale. Diese Entwicklungen wirken sich auch auf das globale Nichtverbreitungsregime aus: Zwar ist die politische Hürde zur Entwicklung eigener Atomwaffen durch einen Staat immer noch sehr hoch, doch verschiedene Akteur:innen diskutieren derzeit eine Beteiligung an bestehenden Atomwaffenprogrammen. Die belarussische Führung erwägt die Stationierung russischer Atomwaffen und Finnland sowie Schweden schließen ein nukleares Engagement in der NATO nicht mehr aus.

Hinzu kommt das gestiegene Risiko eines sogenannten unabsichtlichen’ Einsatzes von Atomwaffen. Denn durch Konflikte zwischen nuklear bewaffneten Akteuren, vulnerable Kommunikations- und Kommandostrukturen sowie die Verflechtung konventioneller und nuklearer Systeme steigt auch das Risiko für Missverständnisse, Fehlalarme und menschliche Fehler. 

Deutschland stationiert US-Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO. Die Nationale Sicherheitsstrategie muss diese Rolle Deutschlands mit Blick auf die sich verändernde Welt hinterfragen. Welches Signal sendet Deutschlands Stationierung von Massenvernichtungswaffen mitten in Europa an Akteur:innen im Nahen Osten oder Indopazifik? Inwiefern trägt Deutschland Verantwortung für Auswirkungen der US-Nuklearwaffentests- und Entwicklungen? Inwiefern bieten Milliardeninvestitionen in die Instandhaltung und Einsatzfähigkeit dieser Waffen eine Antwort auf die multiplen Herausforderungen unseres Jahrhunderts?

Gefahr für menschliche Sicherheit

Es ist Zeit, das Konzept der menschlichen Sicherheit in den Fokus deutscher Sicherheitspolitik zu rücken, statt auf Waffen aus dem letzten Jahrtausend zu beharren. Das bedeutet, die Sicherheit der Bürger:innen in außen- und verteidigungspolitischen Ansätzen in allen Dimensionen mitzudenken. Dazu zählen die bestmögliche Wahrung der wirtschaftlichen Sicherheit, Ernährungssicherheit, Gesundheitssicherheit, Umweltsicherheit, persönlichen Sicherheit, Sicherheit der Gemeinschaft und politischen Sicherheit unter besonderer Berücksichtigung marginalisierter Gruppen.

Schon die Drohung mit Atomwaffen, wie in diesem Jahr durch die russische Führung wiederholt vorgebracht, kann eine existenzielle Angst bei Menschen weltweit und insbesondere in geografischer Nähe auslösen. Diese Angst umfasst alle der genannten Dimensionen von Sicherheit und steigert die bereits bestehende psychische Belastung der Bürger:innen durch das Erleben multipler Krisen (Pandemie, Klima, Energie, Wirtschaft) massiv.


» Es ist Zeit, das Konzept der menschlichen Sicherheit in den Fokus deutscher Sicherheitspolitik zu rücken, statt auf Waffen aus dem letzten Jahrtausend zu beharren. «

— Elisabeth Saar, Florian Eblenkamp & Anna Balzer

Die über 2.000 Tests von Atomwaffen führen noch heute zu gesundheitlichen Folgen — auch in der zweiten und dritten Generation der Betroffenen. Sie machen Gebiete unbewohnbar sowie für die wirtschaftliche Nutzung unbrauchbar. Auch die Produktion von Atomwaffen hat noch immer Auswirkungen auf die Umwelt- und Gesundheitssicherheit in lokalen Gemeinschaften. Diese umfassen unter anderem die gesundheitlichen Folgen für die Bergarbeiter:innen der Wismut AG (Uranproduktion der DDR für das sowjetische, heute russische, Atomwaffenprogramm) sowie die andauernde Umweltzerstörung, kritischen Arbeitsbedingungen und asymmetrischen Machtstrukturen in den heutigen Uranabbaugebieten beispielsweise in Arlit, Niger oder Rössing, Namibia. 

Ein tatsächlicher Einsatz von Atomwaffen, wie taktisch’ er auch wäre, hätte weitreichende Folgen für alle Dimensionen der menschlichen Sicherheit. Eine einzige Detonation würde abhängig von Sprengkraft und Detonationsort hunderttausende Zivilist:innen töten und viele weitere verletzen. Radioaktiver Niederschlag würde langfristig, grenzübergreifend Gebiete verseuchen und diese Regionen als Lebens- und Anbaufläche unbrauchbar machen. Dies kann in Migrationsströmen, wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen resultieren. Nicht absehbar sind die psychischen Auswirkungen eines Atomwaffeneinsatzes auf Menschen weltweit. Mehrfache Abwürfe und Detonationen wären um ein Vielfaches verheerender: Studien der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz ergeben, dass es keine wirksame medizinische Hilfe oder Notfallversorgung auf einen Atomwaffeneinsatz geben kann.

Fahrplan zum AVV-Beitritt

Die Nationale Sicherheitsstrategie sollte angesichts dessen vorausschauend mit diesem Risiko umgehen und auf Impulse für nukleare Abrüstung und Deeskalation setzen. Das bedeutet, dass sich die Bundesregierung weiterhin konstruktiv mit dem 2021 in Kraft getretenen UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen (AVV) auseinandersetzt und praktische Schritte für einen Beitritt zu diesem Vertrag ergreift. Derzeit hat der Vertrag 68 Mitgliedsstaaten und verbietet Atomwaffen umfassend, einschließlich der Androhung eines Einsatzes. Der Vertrag wirkt auch positiv auf das nukleare Nichtverbreitungsregime. Kuba, Venezuela und Kasachstan sind dem Vertrag trotz ihrer historischen, wirtschaftlichen und teils auch politischen Nähe zu Russland bereits beigetreten. Vor allem Kasachstan ist dabei federführend beteiligt. In keinem dieser Staaten wird Russland – oder ein anderer Atomwaffenstaat – jemals Atomwaffen stationieren können. Eine Wiederholung der Kubakrise ist damit völkerrechtlich ausgeschlossen. Ähnliches gilt für die Staaten im Pazifik und eine mögliche Ausweitung der chinesischen Atomwaffenpolitik. Fidschi, Philippinen oder auch Kiribati haben durch ihren Beitritt zum AVV ausgeschlossen, dass auf diesen Inseln Atomwaffen stationiert werden. Auch wenn militärische Spannungen die indopazifische Region künftig prägen werden, macht der AVV eine nukleare Konfrontation deutlich unwahrscheinlicher.


» Atomwaffen müssen als sicherheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts gedacht werden. «

— Elisabeth Saar, Florian Eblenkamp & Anne Balzer

Damit Deutschland seiner Verantwortung in der Welt gerecht wird, müssen die Auswirkungen der nuklearen Abschreckung auf diverse Akteur:innen beachtet werden: Dazu zählen auch die unterschiedliche Auswirkung radioaktiver Strahlung auf verschiedene Körper, insbesondere die überproportionale Betroffenheit von Frauen und Mädchen (unter anderem höheres Krebsrisiko, eingeschränkte Reproduktionsfähigkeit sowie Risiko von Fehlgeburten und daraus folgende soziale Stigmatisierung); außerdem der auf imperialen Strukturen beruhende Uranbergbau und die Atomwaffentests auf dem Land indigener Bevölkerung sowie die abnehmende Überzeugungskraft für nukleare Abrüstung gegenüber nach Atomwaffen strebenden Akteur:innen. Atomwaffen müssen als sicherheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts gedacht werden. Dafür braucht es neue Lösungen – der AVV ist ein Impuls für mehr Sicherheit. Es ist Zeit für einen Fahrplan, wie Deutschland diesem Vertrag beitreten kann. 

Entscheidende Eckpfeiler dafür sind:

  1. Die Bundesregierung erkennt an, dass Atomwaffen ein existenzielles Risiko für die nationale Sicherheit Deutschlands und Europas darstellen.
  2. Die Bundesregierung setzt sich zusammen mit Verbündeten und Partnern für die Stärkung des Atomwaffenverbotsvertrags ein.
  3. Die Bundesregierung erklärt die Beendigung der nuklearen Teilhabe Deutschlands zum Ziel und bringt Vorschläge für nukleare Abrüstung in die NATO ein.
  4. Die Bundesregierung erkennt auf Grundlage des Konzepts menschlicher Sicherheit, die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen und insbesondere die damit einhergehenden genderspezifischen Folgen an. 

Die Nationale Sicherheitsstrategie sollte Deutschlands sicherheitspolitischer Leitfaden sein. Deshalb muss darin gestärkt werden, was umfassende Sicherheit schafft. Der AVV kann die Sicherheit Deutschlands und der Bürger:innen erhöhen, globale Stabilität ermöglichen und bestehende Verträge ergänzen. Deswegen sollte in der Nationalen Sicherheitsstrategie eine klare Beitrittsperspektive geschaffen werden. 


Elisabeth Saar

Florian Eblenkamp

Vorstand, ICAN

Anne Balzer

Mitarbeiterin, ICAN

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