Artikel von Jana Puglierin

Status quo plus Sondervermögen reicht nicht

Puglierin 2022 Sondernvermögen

(Bundeswehr/​Torsten Kraatz via Flickr)

In Big Picture: Prioritäten für die Nationale Sicherheitsstrategie
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Die Bundesrepublik muss sich als sicherheitspolitische Akteurin in Europa in wesentlichen Aspekten neu erfinden. Die bisher angekündigten Schritte können dabei nur der Anfang eines umfassenden Prozesses sein, der dem Leitstern europäische Souveränität folgt.

Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht von einer Zeitenwende“ gesprochen, die sich aktuell vor unser aller Augen vollzieht. Der russische Einmarsch im ukrainischen Nachbarland hat gezeigt, dass Russland nicht als verantwortungsbewusster Partner in die bestehende europäische Sicherheitsordnung integriert werden kann, da es dem Kreml offensichtlich darum geht, genau diese Ordnung zu zerstören. Selbst wenn es gelingen sollte, den Krieg in der Ukraine einzufrieren oder gar zu beenden: Deutschland, die EU und die NATO müssen sich auf einen langfristigen Konflikt mit Moskau einstellen.

Die Zeitenwende zwingt die Bundesrepublik deshalb dazu, sich als sicherheitspolitische Akteurin in Europa in wesentlichen Aspekten neu zu erfinden. Das gilt umso mehr, weil sich der Konflikt mit Russland vor dem Hintergrund eines die internationalen Beziehungen immer stärker dominierenden Großmachtkonflikts zwischen China und den USA abspielt. Die Welt zerfällt mehr und mehr in rivalisierende Blöcke, was für eine exportorientierte und auf Globalisierung angewiesene Handelsnation wie Deutschland ein existentielles Problem darstellt.

Von vermeintlichen Gewissheiten verabschieden

Spätestens jetzt muss sich die Bundesrepublik daher von gewissen Prinzipien verabschieden, an denen sie sich jahrelang orientiert hat. Dazu gehört vor allem die Idee einer europäischen Friedensdividende“, auf Basis derer sich Deutschland trotz seiner zunehmenden Beteiligung an Auslandseinsätzen immer noch in erster Linie als Zivilmacht“ verstand. Dazu gehört auch der Glaube an die segensreichen und demokratisierenden Effekte einer wirtschaftlichen Verflechtung mit Autokratien wie Russland oder China. Wie gefährlich es ist, sich in einem strategisch wichtigen Bereich von einem Akteur abhängig zu machen, der diese Abhängigkeit als Mittel für hybride Kriegsführung instrumentalisiert, bekommt Deutschland gerade hautnah in Form einer massiven Energiekrise zu spüren. 


» Die Strategie muss die Frage beantworten, was Deutschland, das bevölkerungsreichste und mächtigste Land in Europa, unter den veränderten Bedingungen mehr zur europäischen und internationalen Sicherheit beitragen kann und will. «

— Jana Puglierin

In Teilen hat Deutschlands sicherheitspolitische Neuerfindung mit der Rede des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 bereits begonnen. Das Sondervermögen für die Bundeswehr, die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels für Verteidigungsausgaben, die Entscheidung, amerikanische F‑35-Kampfjets zu kaufen – all das kommt in der deutschen Verteidigungspolitik einer kleinen Revolution gleich, die viele Beobachter bis vor kurzem für ausgeschlossen hielten. Dennoch können diese Schritte nur der Beginn eines umfassenden Prozesses sein, der die sicherheitspolitische Rolle Deutschlands in Europa und der Welt neu definiert. 

Vor diesem Hintergrund kann die Nationale Sicherheitsstrategie keine Festschreibung des alten Status quo plus Sondervermögen sein. Sie muss die Frage beantworten, was Deutschland, das größte und mächtigste Land in Europa, unter den veränderten Bedingungen mehr zur europäischen und internationalen Sicherheit beitragen kann und will – und wie das gelingen kann.

Defizite beheben und Grundvoraussetzungen schaffen

Laut Außenministerin Annalena Baerbock soll der Sicherheitsstrategie ein umfassendes Verständnis von Sicherheit zugrunde liegen. Das ist richtig. Auch bisherige deutsche Strategiedokumente, wie das Weißbuch aus dem Jahr 2016 oder die Leitlinien Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ von 2017, beruhen auf einem Sicherheitsbegriff, der neben der politisch-militärischen auch die menschlichen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen von Sicherheit umfasst. Gleichzeitig birgt ein so umfassendes Verständnis von Sicherheit immer auch die Gefahr der Beliebigkeit und Überdehnung. Bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung der Nationalen Sicherheitsstrategie am 18. März 2022 im Auswärtigen Amt brachte Annalena Baerbock die Kernherausforderungen für diesen Prozess auf den Punkt: Wir müssen ein umfassendes Verständnis von Sicherheit haben, ohne dabei total unscharf zu werden“.

Es geht vor allem darum, zu definieren, welche Prioritäten eine umfassende Sicherheitsstrategie in einer Zeit setzen muss, in der im Osten Europas Schlachten wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg geführt werden, während gleichzeitig militärische Spannungen im Indopazifik, die Klimakrise, Hungersnöte im Globalen Süden und das weltweite Erstarken autoritärer Akteure Europas Sicherheit bedrohen. Denn: Deutschlands Kapazitäten und Ressourcen – und die damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten – sind endlich.


» Der Strategieprozess sollte dem Prinzip „first things first“ folgen. Der Blick in die jüngste Vergangenheit zeigt, dass Deutschland schon bei den elementaren Bestandteilen von Sicherheit nicht gut aufgestellt ist. «

— Jana Puglierin

Dabei sollte der Strategieprozess dem Prinzip first things first“ folgen. Der Blick in die jüngste Vergangenheit zeigt, dass Deutschland schon bei den elementaren Bestandteilen von Sicherheit nicht gut aufgestellt ist. Ohne Unterstützung der USA hätte die Bundesrepublik ihre eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nicht aus Afghanistan evakuieren und den Abzug der deutschen Soldatinnen und Soldaten nicht vollziehen können. Am Tag des Kriegsbeginns in der Ukraine konstatierte der Inspekteur des Heeres, die Bundeswehr sei mehr oder weniger blank“. Wenn die Bundeswehr eine Brigade für die Schnelle Eingreiftruppe der NATO entsenden will, muss sich der entsprechende Verband überall im Heer seine Ausrüstung zusammenleihen. All diese Beispiele zeigen, dass es oft schon an den Grundvoraussetzungen für ein breiteres und stärkeres sicherheitspolitisches Engagement fehlt. Die Sicherheitsstrategie sollte daher einen Ansatz verfolgen, der sich daran orientiert, diese fundamentalen Defizite zu beheben – und der gleichzeitig zum Ziel hat, größtmögliche Handlungsfähigkeit herzustellen.

Kernpunkte:

  1. Bisher angekündigte Schritte wie das Sondervermögen für die Bundeswehr mögen einer kleinen Revolution gleichkommen – sie reichen jedoch bei weitem nicht aus.
  2. Insbesondere der Bundeswehr fehlt es an den Grundvoraussetzungen für ein stärkeres sicherheitspolitisches Engagement. Die Sicherheitsstrategie muss darauf abzielen, Defizite zu beheben und zukünftige Handlungsfähigkeit herzustellen.
  3. Dem Leitgedanken europäische Souveränität zu folgen bedeutet: Abhängigkeiten von autokratischen Staaten abbauen und kritische Technologien und Infrastruktur schützen.

Leitprinzip europäische Souveränität

Ohne eine funktionsfähige und einsatzbereite Bundeswehr ist Deutschland als Garant für Sicherheit nicht glaubwürdig. Vor dem Hintergrund des russischen Revisionismus muss es eine Priorität sein, die Bundewehr in die Lage zu versetzen, führend zum Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv der NATO beizutragen und im Sinne des Bündniszusammenhalts zum Rückgrat konventioneller Verteidigung in Europa zu werden. Das ist umso wichtiger, weil nicht klar ist, wie lange die USA noch bereit sein werden, die Hauptlast bei der Aufrechterhaltung und Verteidigung der europäischen Sicherheit zu tragen.

Ein Leitgedanke, der sich für den Strategieprozess anbietet, ist das Prinzip der europäischen Souveränität. Diese haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag bereits zum Auftrag gemacht. Nach deutscher Lesart geht es dabei genau um den Aufbau und die Aufrechterhaltung einer unabhängigen europäischen Handlungsfähigkeit zum Schutz der eigenen Interessen und Werte. Ziel ist es, Europa in die Lage zu versetzen, in einem interdependenten System eigene Entscheidungen zu treffen – und diese in einem stärker wettbewerbsorientierten geopolitischen Umfeld notfalls auch gegen Widerstand durchzusetzen. Der Koalitionsvertrag nennt dafür bereits strategische Bereiche wie die Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologien. In all diesen Feldern geht es darum, Deutschland und Europa weniger abhängig und verwundbar zu machen und kritische Technologie und Infrastruktur besser zu schützen.


» Akteure wie Russland und China haben verstanden, dass sich gegenseitige Abhängigkeitsbeziehungen als Waffe zur Erreichung geopolitischer Ziele einsetzen lassen – gerade, wenn diese Beziehungen asymmetrisch angelegt sind. «

— Jana Puglierin

Dieses Ziel trägt auch dem Gedanken Rechnung, dass Krisen und Konflikte heute nicht mehr nur konventionell“ militärisch ausgetragen werden, sondern auch in anderen Arenen. Akteure wie Russland und China haben verstanden, dass sich gegenseitige Abhängigkeitsbeziehungen als Waffe zur Erreichung geopolitischer Ziele einsetzen lassen – gerade, wenn diese Beziehungen asymmetrisch angelegt sind. 

Wenn die Bundesregierung nicht unabhängig von bösartig geltend gemachten äußeren Einflüssen agieren und Entscheidungen treffen kann, schränkt das ihren politischen Handlungsspielraum massiv ein. Anders herum gedacht schaffen der Schutz der territorialen Integrität und die Vermeidung kritischer Abhängigkeiten von autokratischen und militärisch aggressiven Staaten erst die Voraussetzungen dafür, dass Deutschland sich global überhaupt für Themen wie die Sicherung unserer Lebensgrundlagen durch Klimaschutz einsetzen kann. Diese Voraussetzungen zu schaffen sollte im Zentrum der Sicherheitsstrategie stehen. 


Jana Puglierin

Senior Fellow, European Council on Foreign Relations (ECFR) & Leiterin des Berliner ECFR-Büros

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