Artikel von Tobias Pietz

Zeitenwende statt Stillstand bei EU-Krisenmanagement-Einsätzen

In Krisen da draußen: Vorbeugen, Entschärfen, Helfen
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Alle reden von Europas Verteidigung. Aus gutem Grund. Doch die EU braucht auch eine Erneuerung ihrer internationalen militärischen und zivilen Einsätze.

Nächstes Jahr steht für das externe europäische Krisenmanagement ein besonderes Jubiläum an: Vor 20 Jahren entsandte die EU im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) erstmals zivile und militärische internationale Missionen nach Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und in die Demokratische Republik Kongo. Es war eine andere Zeit – kurz nach den Anschlägen des 11. September und dem Fall der Taliban in Afghanistan. Europa machte sich auf, eine eigene internationale Krisenpolitik zu definieren, Strukturen dafür aufzubauen und erste praktische Erfahrungen zu sammeln. Seitdem wurden in der – nach dem Vertrag von Lissabon umbenannten – Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union 37 Krisenmanagement-Einsätze umgesetzt. Aktuell laufen 18, davon elf zivile Missionen und sieben militärische Operationen. In diesem Monat wird mit EUMAM Ukraine eine weitere militärische Mission dazukommen. Darüber hinaus ist eine temporäre zivile Grenzmission an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan im Gespräch, die ebenfalls in wenigen Wochen ihre Arbeit aufnehmen soll.

Diese Zahlen beeindrucken auf den ersten Blick. Doch europäische Einsätze haben sich im letzten Jahrzehnt stark gewandelt. Der Beginn der EU-Missionen war geprägt von der ehrgeizigen, 2003 verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS). Die EU wollte sich engagieren, einen Unterschied machen – und das vor allem mit dem Ziel der Unterstützung von Aktivitäten und Einsätzen der Vereinten Nationen. In den ersten fünf Jahren setzte die EU fast die gesamte Bandbreite militärischer und ziviler Einsätze um, die sie für die ESVP/​GSVP angedacht hatte. Die Einsätze genossen große politische Unterstützung der Mitgliedsstaaten und profitierten von deren Willen, eine beträchtliche Zahl an Personal und Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Ob 3700 Soldat:innen im Tschad und in der Zentralafrikanischen Republik, 1800 in der Demokratischen Republik Kongo, 700 Polizeikräfte in Bosnien-Herzegowina, 3200 zivile Mitarbeiter:innen in der Rechtsstaatsmission im Kosovo oder je 200 Monitor:innen in Aceh und Georgien GSVP-Einsätze – die Mitgliedsstaaten der EU waren ambitioniert und setzten das Instrument global ein.

Kernpunkte:

  1. Nach fast 20 Jahren Einsätze im Rahmen der GSVP braucht die EU eine Wirkungsanalyse und Neuorientierung für das zentrale externe Krisenmanagement-Instrument.
  2. Falls der UN-Sicherheitsrat Friedenseinsätze nicht mehr mandatiert, könnte die Bedeutung von GSVP-Einsätzen wieder zunehmen.
  3. Deutschland sollte die Zeit bis zur EU-Ratspräsidentschaft Schwedens nutzen, um mit Partnern einen substantiellen Reformprozess bei zivilen und militärischen Einsätzen anzustoßen.

    Missionen mit Schwächen

    Doch mit der EU-Erweiterung und dem Vertrag von Lissabon 2009 hat sich das geändert. Vereinfacht gesagt brachten die neuen Mitgliedsstaaten aus Osteuropa andere Interessen und Bedrohungswahrnehmungen mit. Dieser Umstand wurde zu einer zentralen Schwäche für die weitere Umsetzung der GSVP-Missionen, sowohl bei der Einigung auf einen Einsatz als auch bei der Bereitstellung von Personal. Kurz nach Beginn der gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Zentralafrikanischen Republik 2012 wollte die EU einen GSVP-Einsatz entsenden. Es dauerte bis Januar 2014 bis EUFOR RCA nach unglaublichen sechs Konferenzen für die Bereitstellung von Truppen mit einer beschaulichen Größe zum Einsatz kam. Ein Grund dafür war das mangelnde Interesse vieler Neumitglieder der EU.EUFOR RCA Hinzu kam, dass auch die großen Mitgliedsstaaten Frankreich, Italien, Deutschland oder Großbritannien, die in den Anfängen der GSVP sehr engagiert waren, nun keinen besonderen Appetit mehr auf personal- und kostenintensive Missionen hatten.

    Darüber hinaus fokussieren sich seit Lissabon fast alle Missionen auf die Aus- und Weiterbildung von Sicherheitsbehörden (also Polizei und Militär) oder die Beratung von Ministerien und anderen Regierungseinrichtungen des Gastlandes. Kurzfristige Stabilisierung spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Anders als zu Beginn des europäischen Krisenmanagements erfolgt die Entsendung von Missionen auch nicht mehr zuvorderst komplementär zu UN-Friedenseinsätzen, sondern als dezidierter alleinstehender EU-Beitrag. Eine Priorisierung dieser Sichtbarkeit der EU, („waving the EU flag“) statt einer Bedarfsorientierung an den Problemen vor Ort, hat deshalb stark zugenommen. 


    » Was passiert, wenn es keine Mandatierung des UN-Sicherheitsrates für Friedenseinsätze mehr gibt? In diesem Jahr haben Russland und China ihr Abstimmungsverhalten bei Friedenseinsätzen nur von Zustimmung auf Enthaltung gestellt. Künftige Vetos sind aber wahrscheinlich. «

    — Tobias Pietz

    Eine andere Frage, die sich durch die nun extreme geopolitische Rivalität zwischen dem Westen und Russland sowie China für Friedenseinsätze stellt, kann darüber hinaus entscheidend sein für die nahe Zukunft der GSVP-Einsätze: Was passiert, wenn es keine Mandatierung des UN-Sicherheitsrates für Friedenseinsätze mehr gibt? In diesem Jahr haben Russland und China ihr Abstimmungsverhalten bei Friedenseinsätzen nur von Zustimmung auf Enthaltung gestellt. Künftige Vetos sind aber wahrscheinlich, unter anderem für die Mandatierung von EUFOR in Bosnien im Herbst. Falls dies in näherer Zukunft auch die Existenz von UN-Friedenseinsätzen bedroht, könnte EU-Einsätzen eine Schlüsselrolle zufallen, da diese, wie beispielsweise EUMM Georgien, auch ohne UN-Mandat implementiert werden können. Die aktuellen Diskussionen um eine zivile EU-Grenzmission in Armenien zeigen eventuell ebenfalls in diese Richtung.

    Compact und Kompass

    Zwei Prozesse sollen die GSVP-Einsätze zukunftsfähig machen: Der sogenannte Compact für eine zivile GSVP von 2018 und der diesjährige Strategische Kompass. Im Falle des Compact erarbeiten die Mitgliedsstaaten eine Neufassung, die vor allem auch das Ambitionsniveau für zivile Einsätze klären soll. Dieser New Compact“ soll 2023 während der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft verabschiedet werden. 

    In beiden Fällen fehlt jedoch ein erfolgskritisches Element: eine strukturierte und unabhängige Wirkungsanalyse der Einsätze. Die ist bei den Brüsseler Institutionen wohl vor allem aus Sorge vor negativen Ergebnissen bisher nicht gewünscht. Erste Analysen der militärischen Trainingseinsätze der EU durch das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI zeigen, dass diese Sorge nicht unbegründet ist. So werden unter anderem die Wirkung und Nachhaltigkeit dieser Einsätze bezweifelt, vor allem auch im Hinblick auf die Frage, ob das Training von Sicherheitsakteuren in fragilen Kontexten (im Falle Somalias sogar während andauernden gewalttätigen Auseinandersetzungen) der richtige Ansatz ist. Jedoch wird eine Organisation nur lernen und sich weiterentwickeln, wenn sie auch negative Ergebnisse wie diese miteinbezieht und konstruktiv verarbeitet. 


    » In beiden Fällen – Compact und Kompass – fehlt ein erfolgskritisches Element: eine strukturierte und unabhängige Wirkungsanalyse der Einsätze. Die ist bei den Brüsseler Institutionen wohl vor allem aus Sorge vor negativen Ergebnissen bisher nicht gewünscht. «

    — Tobias Pietz

    Natürlich haben auch kleinere und mittlere GSVP-Einsätze nach dem Vertrag von Lissabon Wirkung erzielt und setzen mit ihrem Personal sinnvolle Aktivitäten um. Allerdings stellt sich die Frage, ob man Beratungs- und Trainingsinitiativen (oder auch die Themen Migrationsmanagement und Grenzkontrolle) nicht besser in einem anderen Rahmen implementieren und das Instrument GSVP-Einsatz vor allem für ambitioniertes Krisenmanagement der EU nutzen sollte. Dazu gehören Einsätze, bei denen die EU den Unterschied macht – beispielsweise in Georgien, wo UN und OSZE entweder blockieren oder nicht in der Lage sind, tätig zu werden – sowie Einsätze, hinter denen alle und nicht nur die Hälfte der Mitgliedsstaaten stehen und an denen sich dann auch alle beteiligen.

    Wirkungsanalysen für mehr Komplementarität

    Dafür braucht es die bereits erwähnte unabhängige Wirkungsanalyse. Ein Ergebnis könnte sein, dass man Abstand nimmt von kleineren und mittelgroßen Missionen, die vor allem trainieren und beraten. Denn diese haben möglicherweise einen zu geringen Ertrag im Vergleich zu den großen Anstrengungen und schwierigen politischen Abstimmungsprozessen der Mitgliedsstaaten, die es für GSVP-Einsätze üblicherweise braucht. Und diese Mandate könnten auch ohne Weiteres von der Europäischen Kommission erfüllt werden, wie das Beispiel der Mission EUBAM Moldawien und Ukraine zeigt, mit der die Kommission seit 2005 das gleiche unternimmt, wie die EU im Rahmen der GSVP in Palästina oder Libyen. Da Kommissionsprojekte wie EUBAM Moldawien und Ukraine von Beginn an als mittel- bis langfristige Unterstützung geplant sind, und – anders als GSVP-Einsätze – eben direkten Zugriff auf Kommissionsgelder haben, wäre bei solchen auch für Planungssicherheit für die Gastländer gesorgt. 


    » Bei der angestrebten Komplementarität zwischen Einsätzen von EU und UN ist noch viel Luft nach oben. «

    — Tobias Pietz

    Eine solche Reform würde die Anzahl der Missionen reduzieren und damit den Fokus auf die etwa ein halbes Dutzend militärischen und zivilen Einsätze legen, bei denen alle Mitgliedsstaaten engagiert sind. Diese befänden sich aktuell vor allem in der europäischen Nachbarschaft: in Bosnien, Kosovo, Georgien und der Ukraine. Frei gewordene Ressourcen könnten modular auch UN-Friedenseinsätzen in Ländern zur Verfügung gestellt werden, in die man aktuell parallel noch ein oder manchmal sogar zwei EU-Missionen entsendet. Denn bei der angestrebten Komplementarität zwischen Einsätzen von EU und UN ist noch viel Luft nach oben.

    Integriertes Krisenmanagement vom Bedarf her denken

    Die EU braucht ein zukunftsfähiges und gemeinsames Krisenmanagement. In der Zeitenwende für die Verteidigung der EU darf dies nicht vergessen werden. Der durch den russischen Angriffskrieg erzeugte große Reformdruck für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist auch eine Gelegenheit für große Entscheidungen und nachhaltige strukturelle Veränderungen statt des Klein-Kleins der letzten Jahre. Die Diskussion um die sich anbahnende zivile GSVP-Mission für die Entschärfung der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan zeigt: Sogar im post-sowjetischen Raum könnte es eine friedenspolitische Rolle für die EU und die GSVP geben – eine, die den Fokus nicht auf Training und Kapazitätsaufbau legt.


    » Die EU braucht ein zukunftsfähiges und gemeinsames Krisenmanagement. Der durch den russischen Angriffskrieg erzeugte große Reformdruck für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist auch eine Gelegenheit für große Entscheidungen und nachhaltige strukturelle Veränderungen statt des Klein-Kleins der letzten Jahre. «

    — Tobias Pietz

    Der aktuelle Prozess für die Entwicklung einer deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie, der im Rest Europas genau beobachtet wird, könnte auch für die europäische Ebene Ideen entwickeln, die man dann im ersten Halbjahr 2023 während der schwedischen Ratspräsidentschaft mit gleichgesinnten Partnern umsetzen sollte. Dabei könnte sowohl Bezug und Einfluss genommen werden auf die nun beginnende Entwicklung des New Compact“ für eine zivile GSVP, als auch auf eine genuin unabhängige Auswertung aller GSVP-Einsätze hingewirkt werden. Darüber hinaus sollte in der Nationalen Sicherheitsstrategie ein integriertes, zivil-militärisches EU-Krisenmanagement gefordert werden – eines, in dem auch die Finanzierung gemeinsam erfolgt und nicht gedeckelt ist. Einsätze müssen vom Bedarf und der Wirkung gedacht werden, nicht vom vorhandenen Budget.

    Noch ist das Fenster offen für eine Erneuerung und Stärkung der europäischen Krisenmanagement-Einsätze. Deutschland sollte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen.


    Eine längere Version dieses Kommentars ist zuerst in der Zeitschrift Internationale Politik, Ausgabe September/​Oktober 2022 erschienen.


    Tobias Pietz

    Stellvertretender Leiter des Teams Analyse, Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF)

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