Abschreckung: Ein Konzept für die Gegenwart
Für eine glaubhafte Abschreckung Russlands muss die NATO nicht nur konventionelle und nukleare Strukturen aufbauen und stärken. Auch die Cyber- und ökonomische Kriegsführung sind von entscheidender Bedeutung.
Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine muss sich die Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands an zentraler Stelle auf Abschreckung zurückbesinnen. Das Konzept der Abschreckung zielt auf die Verhinderung von Kriegen oder deren möglichst baldige Beendigung ab. Es bedeutet auf Europa und Deutschland angewandt, dass Russland jegliche Angriffsoption auf Mitgliedstaaten des atlantischen Bündnisses und der Europäischen Union verwehrt werden muss (deterrence by denial). Zusätzlich braucht das Bündnis Möglichkeiten der Vergeltung, die es ihm erlauben, Russland eine schwerwiegende Bestrafung für den Fall aufzuerlegen, dass es dennoch Krieg führt oder gar Kernwaffen einsetzt (deterrence by punishment). Des Weiteren muss Abschreckung, wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, durch eine ökonomische Kriegführung und neuerdings auch eine Cyber-Dimension unterstützt werden, die sich nicht nur auf Abschreckung beschränkt, sondern bewusst offensiv vorgeht (economic and cyber warfare).
Deterrence by denial
Deterrence by denial meint den Aufbau einer modernen konventionellen Struktur (posture) der Vorneverteidigung an den Grenzen zu Russland und Belarus durch die NATO. Vorneverteidigung bedeutet, dass grenznah, aber nicht grenzüberschreitend (das wäre Vorwärtsverteidigung) verteidigt wird. Diese Abwehrstrukturen müssen das Risiko eines erfolglosen Angriffs so hoch erscheinen lassen, dass Russland diese Option gar nicht erst ernsthaft ins Auge fasst. Schwerpunkte sollten die Verteidigung der baltischen Staaten und Polens sein. Es muss aber auch Schutz in der Tiefe des Bündnisraums (das sind Mitteleuropa und Nordeuropa) gegen Angriffe aus der Luft oder von See her mit Marschflugkörpern oder ballistischen Raketen gewährleistet werden (Raketenabwehr, Luftabwehr). Außerdem braucht eine glaubwürdige deterrence by denial die Seeherrschaft in der Ostsee durch Kriegsschiffe der NATO sowie die Luftherrschaft in den möglichen Gebieten eines Angriffs.
Die NATO hat seit dem Gipfeltreffen von Brüssel im Juni 2022 den Auftrag, ein Konzept für die Vorneverteidigung der baltischen Staaten und Polens sowie Rumäniens zu entwickeln. Besonders kritisch sind wegen ihrer mangelnden strategischen Tiefe die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Polen (Suwalki-Korridor). Hier müsste in Friedenszeiten in jedem Land, neben den jeweiligen nationalen Kontingenten, mindestens eine Division von Landstreitkräften aus anderen NATO-Staaten stehen. Zudem müssten Verstärkungskräfte rasch herbeigeführt werden können, am besten, indem deren Waffensysteme bereits in den jeweiligen Verteidigungsräumen gelagert werden. Außerdem muss die Luftherrschaft gesichert werden. Die NATO scheint derzeit in die Richtung zu tendieren, weniger als eine Division (eher eine verstärkte Brigade) externer Bündnismitglieder jeweils in den drei baltischen Staaten und in Polen zu stationieren. Es sollen aber die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass durch Vornelagerung von Waffen und Material ein rascher Aufwuchs in Krisenzeiten möglich wird. Ziel soll es sein, eine Besetzung der Staaten oder Teilen ihres Territoriums durch Russland zu verhindern.
Kernpunkte:
- Deutschland muss sich aktiv mit Heer, Luftwaffe und Marine an der Vorneverteidigung der baltischen Staaten und Polens im Rahmen der NATO beteiligen. Luft- und Seeherrschaft im gesamten NATO-Gebiet sind essentiell, um einen russischen Angriff erfolgreich abzuschrecken.
- Nukleare Gegendrohungen aus dem europäischen NATO-Raum sind auf verstärkte amerikanische Angriffsmittel angewiesen. Zudem sollten die Regeln der aktuell begrenzten nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO geändert werden.
- Exportkontrollen sind ein entscheidendes Instrument, um den Wiederaufwuchs der russischen Streitkräfte nach dem Krieg zu verlangsamen.
- Die Aufnahme der Ukraine in die NATO nach Kriegsende ist Voraussetzung für nachhaltigen Frieden in Europa und stärkt die zukünftige Abschreckung gegenüber Russland.
Ein derartiges Konzept der NATO-Vorneverteidigung hätte Ähnlichkeiten mit demjenigen, welches zu Zeiten des Ost-West-Konflikts dafür sorgte, dass die Sowjetunion von Angriffen gegen den Westen abgesehen hat. Nur wäre Deutschland jetzt nicht das Hauptaufmarschgebiet der Truppen, sondern es wäre Hinterland und würde die strategische Tiefe des Bündnisses bilden. Das bedeutet zweierlei: Zum einen wird sich Deutschland an der Vorneverteidigung im baltischen Raum mit Einheiten des Heeres, der Luftwaffe und der Marine beteiligen müssen. Die entsprechenden Beschlüsse sind auf den NATO-Gipfeln von Wales und Brüssel gefallen, sie müssen allerdings noch umgesetzt werden. Zum anderen müssen wir uns auf die Verstärkung von NATO-Truppen durch Deutschland in Ost-West-Richtung zu Lande einstellen und dass der deutsche Luftraum vor Angriffen mit Flugzeugen, Marschflugkörpern und Raketen geschützt wird. Beide Anforderungen sind derzeit noch nicht erfüllt und erfordern große Investitionen durch die Bundesregierung in Infrastruktur und erweiterter Luftabwehr.
Deterrence by punishment
Deterrence by punishment erfordert eine Rückbesinnung auf nukleare Abschreckung. Die Drohungen Russlands mit Nuklearwaffen gegen die Ukraine haben erkennen lassen, dass Russlands Militärdoktrin darauf baut, Territorien zu besetzen, um dann deren Rückeroberung mit der Drohung des Einsatzes nicht-strategischer Kernwaffen zu verunmöglichen. Dagegen helfen nur zwei Mittel: Erstens, eine erfolgreiche Vorneverteidigung, so dass Russland keine Gelegenheit bekommt, Territorien zu besetzen (siehe oben). Zweitens, die Wiedergewinnung der Fähigkeit der NATO zu einer nuklearen Gegendrohung. Derzeit besteht ein großes Ungleichgewicht bei den nicht-strategischen Kernwaffen in Europa. Während Russland etwa 2.000 Waffen dieser Art in Europa vorrätig hat (meist Kernwaffen kleiner bis mittlerer Stärke, die in der Regel durch Marschflugkörper und ballistische Raketen ausgebracht werden und Reichweiten von bis zu 2.000 km haben), verfügt die NATO nur über etwa 100 frei fallende Bomben, die durch Flugzeuge ausgebracht werden müssen. Es bedarf bei Kernwaffen keines Gleichgewichts in Zahlen, aber wichtig ist ein Gleichgewicht der Optionen. Letzteres ist nicht vorhanden. Zweierlei Maßnahmen sind erforderlich: Zum einen wäre es wichtig, dass die USA weitere nukleare Angriffsmittel für die Verteidigung des europäischen NATO-Raumes zur Verfügung stellen. Hier ist festzuhalten, dass auf strategischen U‑Booten der US-Marine schon einzelne ballistische Raketen für Einsätze im eurostrategischen Rahmen vorgesehen sind und dass es immer wieder zur Verlegung strategischer Bomber der US-Air-Force nach Großbritannien kommt, die Marschflugkörper in den europäischen Teil Russlands abfeuern könnten. Aber die geplante Beschaffung eines seegestützten Marschflugkörpers der US-Marine liegt weiterhin auf Eis. Zum Zweiten bedarf es einer Anpassung der Regeln und Verfahren der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO. Derzeit betrifft diese nur die in Europa lagernden Flugzeugbomben, die unter US-Aufsicht stehen und sie bezieht nur die Länder ein, in denen diese Waffen lagern und die Flugzeuge besitzen, die Kernwaffen zum Einsatz bringen können – das sind Deutschland, Italien, Belgien und die Niederlande. Die nukleare Einsatzplanung findet in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO statt. An dieser Planung sollten auch die baltischen Staaten und Polen beteiligt sein und sie sollte auch nicht nur die frei fallenden Bomben umfassen, die in Deutschland, Italien, den Niederlanden und Belgien lagern.
» Es bedarf bei Kernwaffen keines Gleichgewichts in Zahlen, aber wichtig ist ein Gleichgewicht der Optionen. Letzteres ist nicht vorhanden. «
Ökonomische Kriegsführung und Cyber-War
Ökonomische Kriegführung kennen wir noch aus den Zeiten des Ost-West-Konfliktes. Sie hatte damals den Zweck, die Sowjetunion vom Erwerb von militärisch relevanten Technologien abzuhalten und unterstützte damit die Abschreckung. Der Krieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass die modernsten und effektivsten russischen Waffen weitgehend auf Technologien angewiesen sind, die aus westlichen Ländern stammen. Daher sind Exportkontrollen ein entscheidendes Moment für die Verlangsamung des Wiederaufwuchses der russischen Streitkräfte nach dem Desaster des Kriegs in der Ukraine. Dieser Krieg hat Russland substanzielle Verluste an Soldaten, an Waffen und sonstigem Material zugefügt, so dass es Jahre dauern wird, bis die russische Verteidigungsindustrie diese wieder ausgeglichen hat. Mit einer klug angelegten koordinierten Exportkontrolle kann dieser Prozess stark verlangsamt werden.
» Der Krieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass die modernsten und effektivsten russischen Waffen weitgehend auf Technologien angewiesen sind, die aus westlichen Ländern stammen. «
Cyber-Kriegführung ist ein eigenständiges Feld, auf dem Abschreckung eine Rolle spielen kann, aber wo man sich nicht nur auf Abschreckung verlassen darf. Auf jeden Fall ist Cyber-Defense eine der wichtigsten Ausgaben der NATO und ihrer Mitgliedstaaten. Ob die NATO auf Cyber-Angriffe mit Waffengewalt antwortet, ist im Einzelfall zu bestimmen. Wichtig ist, dass Abschreckung durch eigene Fähigkeiten zu Cyber-Angriffen gewahrt wird.
Die offene Frage bei all diesen Vorhaben ist, wie man mit der Ukraine verfährt. Präsident Selensky hat einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt, der voraussichtlich solange nicht behandelt wird, wie der Krieg andauert. Aber danach stellt sich diese Frage und es kann aus deutscher Sicht nur eine positive Antwort darauf geben. Angesichts der offenbar unabänderlichen Entschlossenheit Russlands, die Ukraine zu unterwerfen und die ukrainische Nation zu zerstören, wird es in Europa keinen Frieden geben, wenn die Ukraine nicht der NATO angehört. Insbesondere, wenn sie nicht unter dem amerikanischen Nuklearschirm steht. Andererseits haben die Ukrainer und Ukrainerinnen gezeigt, dass sie ihr Land verteidigen wollen und können. Die Aufnahme der Ukraine wird die Abschreckung gegen Russland daher stärken. Nur mit der Ukraine wird es möglich sein, den russischen Expansionsbestrebungen im Schwarzmeerraum einen Riegel vorzuschieben. Nach einem Beitritt der Ukraine zur NATO müsste die Ukraine in der integrierten Verteidigungsstruktur der NATO teilnehmen. Die übrigen Mitglieder werden viel von den Ukrainern lernen können.
Viele werden argumentieren, dass eine westliche Strategie der Abschreckung zu einem Rüstungswettlauf beitragen wird. Das mag sein, aber ein Rüstungswettlauf ist weniger gefährlich als ein Krieg und angesichts der endlichen Ressourcen Russlands sitzt der Westen hier am längeren Hebel.
Joachim Krause
Direktor, Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)
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