Ohne Halbleiter-Strategie keine nachhaltige nationale Sicherheit

Kleinhaus Klein 2022 tech

(Anne Nygård /​Unsplash)

Posted in Rethinking Interdependence
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In der deutschen Ministerien und der Verwaltung mangelt es an technischem Sachverstand. Der wird allerdings dringend benötigt, um in den globalen Technologie-Ökosystemen strategisch zu handeln.

In den letzten Jahren ist die Tragweite der technologischen Abhängigkeiten auf Deutschlands und Europas Sicherheit immer deutlicher geworden. Die Wettbewerbssituation europäischer Unternehmen in verschiedenen Technologie-Ökosystemen, sei es Halbleiter, Mobilfunk, Batterien oder Autos, bekommt zunehmend außen- und sicherheitspolitische Relevanz. Daraus folgt, dass sich an der Schnittstelle von Technologie und Geopolitik letztlich alles um Abhängigkeiten dreht. Im Zentrum steht die Wechselwirkung folgender Dependenzen: Wie abhängig ist das Ausland von den eigenen Technologieanbietern? Wie abhängig ist man gleichzeitig selbst von ausländischen Technologieanbietern? 

Um diese Fragen zu beantworten, braucht es grundsätzliches Wissen über die bestehenden Abhängigkeiten – diese müssen identifiziert, verstanden und Handlungen danach ausgerichtet werden. Zumindest auf dem Papier scheinen Politiker:innen in Brüssel die hohe Relevanz dessen verstanden zu haben. Das Konzept der offenen strategischen Autonomie‘ blickt auf Europas Außen‑, Handels- und Sicherheitspolitik als ein Geflecht aus strategischen Abhängigkeiten und Kapazitäten, die potenzielle Auswirkungen auf die Sicherheit der Union haben.


» Halbleiter – im Sprachgebrauch oft auch Chips genannt – sind nicht erst kritisch für die nationale Sicherheit, wenn sie in einem Panzer stecken oder auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden. Als Basistechnologie sind Halbleiter mittlerweile für jeden einzelnen Sektor überlebenswichtig. «

— Jan-Peter Kleinhans & Julia Hess

Auch Deutschland steht im Umgang mit der zunehmenden Verschränkung von Technologie und Geopolitik vor zahlreichen Herausforderungen. Ein sicherheitspolitisches Umdenken fällt schwer und braucht Zeit, gerade in einer Verwaltung, die durch das Ressort-Prinzip mit unterschiedlichen fachlichen Zuständigkeiten unter eigener Verantwortung geprägt ist. Gleichzeitig ist ein umfassender geopolitischer Blick auf Technologie in Deutschland dringend nötig. Transnationale, teils globale Technologie-Ökosysteme haben zur Folge, dass sich sowohl Deutschland als auch Europa in langfristig bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen befinden, die aus verschiedenen Perspektiven zu bewerten sind. Das fällt schwer, wie die zähe Debatte um Huawei und ZTE als 5G-Ausrüster gezeigt hat. Dabei war 5G noch ein einfacher Fall. Eine deutsche und europäische Halbleiter-Strategie, die sicherheits- und außenpolitische Interessen mitdenkt, ist das deutlich schwierigere Unterfangen.

Chips sind Basistechnologie 

Halbleiter – im Sprachgebrauch oft auch Chips genannt – sind nicht erst kritisch für die nationale Sicherheit, wenn sie in einem Panzer stecken oder auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden. Als Basistechnologie sind Halbleiter mittlerweile für jeden einzelnen Sektor überlebenswichtig – wie spätestens die globale Chip-Knappheit seit 2020 gezeigt hat.

Ein modernes Auto benötigt etwa 1.000 Halbleiter, vom simplen Spannungsregler für den Motor des Scheibenwischers bis hin zu modernsten Prozessoren für diverse Assistenzsysteme. Ähnliches gilt für Medizingeräte in Krankenhäusern, Geldautomaten und Windkrafträder. Überall wo es Software braucht, wo Strom fließt, sind Halbleiter notwendig. 

Die Herstellung dieser kleinen Komponenten mit unterschiedlichen Funktionalitäten ist jedoch hochkomplex. Weit mehr als 1.000 Prozessschritte, mehr als 80 verschiedene Arten von Fertigungsequipment und bis zu 400 verschiedene Chemikalien, einschließlich Gasen und Substraten, sind notwendig, bis der moderne Chip fertiggestellt ist und verbaut werden kann. Unter idealen Bedingungen, sprich ohne jegliche Knappheit, nimmt dieser Fertigungsprozess vier bis sechs Monate in Anspruch.


» Fakt ist, dass weder ein Land noch eine Region auf der Welt in der Lage ist, alle Produktions- und Prozessschritte sowie kritische Vorprodukte lokal zusammenzuführen. Autonomie ist im Bereich Halbleiter nicht existent. «

— Jan-Peter Kleinhans & Julia Hess

Eng aufeinander abgestimmt ist aber nicht nur der Produktionsprozess an sich, sondern auch die Anpassung der Fertigung an die jeweiligen Halbleiter. Diese werden in der sogenannten Fab (Fabrication Plant) produziert. Über Jahrzehnte wurden die Produktionsabläufe und die benötigten Maschinen und Chemikalien aufgrund des hohen Innovationsdrucks massiv diversifiziert. Der Fertigungsprozess eines modernen Prozessors für Smartphones sieht substanziell anders aus als der Fertigungsprozess eines Leistungshalbleiters zum Laden der Batterie eines E‑Autos. Eine 5nm-Fab für modernste Prozessoren auf Silizium-Basis kann keine Leistungshalbleiter auf Basis von Gallium-Nitrid oder Hochfrequenzhalbleiter auf Indiumphosphid-Basis herstellen. ASML, der Weltmarktführer für eine bestimmte Art von Belichtungsmaschinen für die Chip-Herstellung, setzt selbst auf über 5.000 Zulieferer, überwiegend aus Europa, um diese Maschinen konstant zu verbessern.

Dieser hohe Grad an Spezialisierung und Arbeitsteilung hat transnationale Wertschöpfungsketten herausgebildet, die auf wechselseitigen Abhängigkeiten fußen. Fakt ist, dass weder ein Land noch eine Region auf der Welt in der Lage ist, alle Produktions- und Prozessschritte sowie kritische Vorprodukte lokal zusammenzuführen. Autonomie ist im Bereich Halbleiter nicht existent.

Wechselseitige Abhängigkeiten in der transnationalen Halbleiter-Wertschöpfungskette

Im politischen Diskurs wird gern ein anderes Bild vermittelt. In Berlin, Brüssel und Washington steht die Relevanz der über 20 Milliarden US-Dollar teuren Megafabs in Taiwan und Südkorea im Zentrum. Der Fokus liegt auf der Tatsache, dass Prozessoren für Smartphones, Server und PCs fast ausschließlich dort hergestellt werden. Dabei wird jedoch vergessen, dass diese Fabs ohne Fertigungsequipment und Chemikalien aus den USA, Europa und Japan keinen einzigen Chip herstellen würden. 

In der gegenwärtigen, transnationalen und durch Interdependenzen geprägten Wertschöpfungskette greift jedes Rädchen eng ineinander. Jede Art von Störung oder (politischer) Intervention hat dementsprechend große Auswirkungen auf die gesamte Wertschöpfungskette und die Endanwender-Industrien. Effektive Maßnahmen zur Stärkung von Resilienz müssen daher aus industrie‑, außen- und sicherheitspolitischen Gesichtspunkten und unter Berücksichtigung der spezifischen Eigenschaften der Wertschöpfungskette evaluiert werden. 

Kernpunkte:

  1. Die globalen Abhängigkeiten in der Wertschöpfungskette von Halbleitern sind so komplex, dass es keine Autonomie in diesem Bereich geben kann.
  2. In der deutschen und europäischen Verwaltung mangelt es an Wissen über Technologie und Halbleiter. Das muss sich dringend ändern. Auch um im Bereich Technologie geopolitisch zu handeln.

Nationale Sicherheit trotz Interdependenzen?

In der Operationalisierung des Konzeptes offener strategischer Autonomie ist auch die Bewertung von Interdependenzen hinsichtlich nationaler Sicherheit von hoher Relevanz. Hier stellen sich zahlreiche Fragen: Wenn der überwiegende Teil von Prozessoren für Smartphones, Server, PCs und Laptops in Taiwan gefertigt wird, wie groß wären die Kollateralschäden einer Übernahme durch China? Bei für die Halbleiter-Herstellung benötigten Edelgasen, wie Neon, Xenon und Krypton, spielen ukrainische und russische Unternehmen eine zentrale Rolle. Reichen hier Lagerbestände, um einen Engpass auszugleichen? Kommt eine solche Abhängigkeit mit ähnlichen sicherheitspolitischen Folgen, wie Deutschlands Abhängigkeit von russischem Erdgas? Wie ist eine Abhängigkeit von seltenen Erden aus China zu bewerten?

Auch gegenüber unseren internationalen Partnern und Verbündeten gibt es viele offene Fragen. Die USA sind unter anderem ein wichtiger Zulieferer von Chip-Design-Software und Fertigungsequipment. Sie nutzen diese Schlüsselpositionen, indem sie massiv Exportkontrollen für chinesische Halbleiter-Unternehmen mit dem Ziel ausbauen, den technologischen Fortschritt Chinas durch den fehlenden Zugang zu diesen Zulieferermärkten zu verlangsamen. Hier müssen sich Deutschland und Europa entscheiden, ob und in welchen Bereichen ähnlich vorgegangen werden soll. Um hier eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, braucht es auf Seiten von Regierungen geopolitisches Verständnis, substanzielles Wissen über die Technologie, die Wettbewerbssituation in den betroffenen Märkten als auch zu den Markteintrittsbarrieren. Mangelt es hier, werden nachgelagerte Effekte von Exportkontrollen nicht richtig eingeschätzt werden können.


» Es ist ratsam, in ein langfristig ausgerichtetes Verständnis verschiedener Technologie-Ökosysteme auf deutscher und europäischer Ebene zu investieren. Die Grundlage hierfür sollte die Nationale Sicherheitsstrategie schaffen. «

— Jan-Peter Kleinhans & Julia Hess

Eine solche Betrachtung des Technologie-Ökosystems aus außen‑, handels- und sicherheitspolitischer Perspektive wird durch eine zentrale Erkenntnis geprägt: Die vorherrschenden Interdependenzen werden langfristig bestehen bleiben, ganz gleich wie viele Subventionen in die Stärkung regionaler Ökosysteme fließen. Strategien mit dem Ziel der Autonomie oder dem Fokus auf europäische Fertigung zur Versorgungssicherheit sind weder sinnvoll noch realistisch. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es Kompetenzen benötigt, diese Abhängigkeiten fortlaufend und langfristig zu bewerten, um effektive Strategien entwickeln zu können. 

Um ein solches Verständnis innerhalb der Regierung zu entwickeln, braucht es neben technischem, ökonomischem und geopolitischem Sachverstand vor allem die Bereitschaft, Kapazitäten und Ressourcen zu schaffen, die ein solches kontinuierliches Mapping von Technologie-Ökosystemen ermöglichen. Denn diese Ressourcen fehlen und damit auch die analytische Basis, um Implikationen für Deutschlands und Europas Sicherheit zu identifizieren und entsprechend handeln zu können.

Ohne Technologie-Verständnis gibt es keine nachhaltige Nationale Sicherheitsstrategie

Nicht nur mit Blick auf das untersuchte Halbleiter-Ökosystem ist es ratsam, in ein langfristig ausgerichtetes Verständnis verschiedener Technologie-Ökosysteme auf deutscher und europäischer Ebene zu investieren. Die Grundlage hierfür sollte die Nationale Sicherheitsstrategie schaffen.

Viele geoökonomische Instrumente, die derzeit innerhalb Europas aber auch mit Verbündeten verhandelt werden – wie die Ausweitung der Exportkontrolle, neue Sanktionsmechanismen und Investitionskontrolle – benötigen tiefes Wissen über die Technologie-Ökosysteme, in denen sie wirken. Dies wird nur funktionieren, wenn Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie deutsche Verwaltung und Politik in die Lage versetzt, Technologie geopolitischer zu betrachten und Abhängigkeiten zu durchdenken. Diese internen Kapazitäten bilden dann die Grundlage für Deutschland, eine nationale Sicherheitsstrategie aktiv zu gestalten und an zukünftige Entwicklungen anzupassen. Ausgangspunkt ist die Anerkennung der technologischen Dimension als zentrales Betätigungsfeld für die nationale Sicherheit. Dies geht einher mit dem Schaffen neuer Zuständigkeiten und Prozesse sowie der Erweiterung von Kapazitäten durch neue Expertisen und Kompetenzen in den Ministerien.


Jan-Peter Kleinhans

Stiftung Neue Verantwortung (SNV), Leiter Technologie und Geopolitik

Julia Hess

Stiftung Neue Verantwortung (SNV), Projektmanagerin Technologie und Geopolitik

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