Führung braucht Handlungsfähigkeit
(Nicolas Economou/NurPhoto/Shutterstock)
Deutschland muss endlich proaktiv seine europäische und internationale Führungsrolle wahrnehmen. Dafür bedarf es einer deutschen strategischen Kultur, die langfristige Ziele in den Blick nimmt.
Als ehemaliger Botschafter und Diplomat kennen Sie die Perspektiven anderer Staaten auf die deutsche Sicherheitspolitik. Was erwarten unsere europäischen und transatlantischen Verbündeten von Deutschlands Nationaler Sicherheitsstrategie?
Unsere europäischen und transatlantischen Partner erwarten von Deutschland mehr als den ‚Münchner Konsens‘ von 2014. Denn dieser war weniger ein Konsens des Handelns als ein Konsens der Worte. Verbale Prioritätensetzungen und Bekenntnisse zur EU und NATO reichen angesichts von Krieg in Europa und Zerfallsprozessen der internationalen Ordnung nicht mehr. Unsere Partner erwarten die uneingeschränkte Erfüllung der von uns schon 2014 übernommenen Zwei-Prozent-Verpflichtung gegenüber des NATO-Bündnisses. Im Rahmen der EU geht es um konkrete Initiativen zur Stärkung von Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU-Außenpolitik sowohl hinsichtlich der Fähigkeiten wie hinsichtlich der Entscheidungsprozesse. Deutschland sollte sich klar für eine Abschaffung des Vetorechts und die Einführung von Mehrheitsentscheidungen aussprechen. Wer Führungsambitionen öffentlich postuliert, darf nicht auf Initiativen Dritter warten.
» Deutschland sollte sich klar für eine Abschaffung des Vetorechts und die Einführung von Mehrheitsentscheidungen aussprechen. «
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hatte weiterreichende Folgen für die sicherheitspolitische Lage Deutschlands und Europas. Wie soll die europäische Sicherheitsordnung in Zukunft aussehen?
Angesichts der aktuellen Bedrohungslage muss Kriegsprävention durch Abschreckung absolute Priorität genießen. Erst dann kann und sollte wieder über vertrauensbildende Maßnahmen, Rüstungskontrollinitiativen und institutionelle Vorkehrungen (OSZE!) gemeinsam nachgedacht werden. Deutsches Wunschziel muss es bleiben, eine auf starke Institutionen und feste, das heißt von allen anerkannte Regeln gegründete Sicherheitsordnung anzustreben.
Die Präsidentschaft von Donald Trump hat gezeigt, dass der militärische Schutz durch die USA keine Selbstverständlichkeit für Deutschland und Europa mehr ist. Nun zeichnet sich ab, dass die Demokraten in den Mid-Terms ihre Mehrheit im House verlieren. Donald Trump signalisiert sein Interesse an einer erneuten Kandidatur. Wie muss sich Deutschland strategisch auf eine Zeit nach der Biden-Präsidentschaft vorbereiten?
Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ist es für Deutschland nicht mehr egal, wer 2024 amerikanischer Präsident oder Präsidentin wird. Im Gegenteil: Das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen 2024 könnte gravierende Folgen für die transatlantischen Beziehungen und die Sicherheitsordnung in Europa haben. Deshalb muss Deutschland gemeinsam mit den EU-Partnern alles daran setzen, dass uns aus dem Blickwinkel des Farmers im amerikanischen Mittleren Westen nicht mehr der Geruch des sicherheitspolitischen Trittbrettfahrers anhängt. Nur wenn die Transatlantiker:innen in den USA nachweisen können, dass Europa jetzt bereit und im Stande ist, seinen Karren im Wesentlichen selbst zu ziehen, dürfen wir von einem Sieg über die Isolationist:innen ausgehen.
Unabhängig davon ist es überfällig, dass Deutschland endlich auf das Angebot von Emanuel Macron eingeht, in ein nuklearstrategisches Gespräch einzusteigen. Die Frage, ob und wie das französische Nukleardispositiv in Ergänzung zum amerikanischen zur Abschreckung hinzugerechnet werden könnte, bedarf jetzt der dringenden Klärung.
» Nur wenn die Transatlantiker:innen in den USA nachweisen können, dass Europa jetzt bereit und im Stande ist, seinen Karren im Wesentlichen selbst zu ziehen, dürfen wir von einem Sieg über die Isolationist:innen ausgehen. «
In Bezug auf die Entwicklung der großen Institutionen westlicher Demokratien, wie die EU, sagten Sie Anfang des Jahres, sie sehen „eigentlich nur Negatives“ und dass diese Institutionen zunehmend brüchig werden. Wie soll sich eine erweiterte EU aufstellen, damit sie handlungsfähig ist?
Erstens muss die EU sich jetzt der Herausforderung der Erweiterung stellen, sowohl gegenüber Südosteuropa wie auch gegenüber der Ukraine. Zweitens ist es überfällig, dass die EU sich mit oder ohne Vertragsänderungen innerlich reformiert, insbesondere was die Entscheidungsprozeduren beispielsweise in außenpolitischen Fragen anbetrifft. Ein Einstieg in Mehrheitsentscheidungen durch Beendigung der Praxis der völlig kostenlosen Einlegung von Vetos ist überfällig. Hierzu bedarf es einer von Deutschland ausgehenden Initiative.
Kernpunkte:
- Die EU muss ihre Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit durch Reformprozesse stärken. Hierbei sollte Deutschland seine Führungsrolle proaktiver wahrnehmen und die Einführung von Mehrheitsentscheidungen vorantreiben.
- Angesichts der aktuellen Bedrohungslage muss Kriegsprävention durch Abschreckung absolute Priorität genießen. Da das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen 2024 ungewiss ist, sollte Deutschland die Frage des französischen Nukleardispositivs dringenden klären.
- Die Entwicklung einer deutschen strategischen Kultur bedarf der Festlegung von klaren, langfristigen Zielen. Insbesondere die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates ist wichtig, um eine ressortübergreifende Funktionslogik zu garantieren.
Sie haben die Ressortlogik und das „Kleinklein“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik kritisiert. Wie muss die systematische Koordinierung innerhalb und zwischen der Ministerien konkret gestaltet werden, um zukünftig strategisch zu handeln? Welchen Beitrag soll die Nationale Sicherheitsstrategie dazu leisten?
Um eine systematische Erarbeitung, Durchführung und Umsetzung außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen sicherzustellen, bedarf es eines viel umfassender zuständigen Bundessicherheitsrats oder eines neuartigen Nationalen Sicherheitsrats. Die Praxis der deutschen Ressortlogik mag in einem Kleinstaat funktionieren, für den geltend gemachten Führungsanspruch in der Europäischen Union reicht das schon lange nicht mehr aus.
» Ein Land, dessen Strategie im Kern in der Beibehaltung des Status quo besteht, wird angesichts des rasanten machtpolitischen, technologischen und ökonomischen Wandels in der Welt nicht bestehen können. «
Der deutschen Sicherheitspolitik wird oft Strategielosigkeit attestiert. Welche Hoffnungen und Forderungen haben Sie für die strategische Kultur Deutschlands sowohl auf politischer wie auch gesellschaftlicher Ebene?
Um eine Strategie zu verfolgen, bedarf es der Klärung von Zielen und der Bereitstellung der dafür notwendigen Mittel. Ein Land, dessen Strategie im Kern in der Beibehaltung des Status quo besteht, wird angesichts des rasanten machtpolitischen, technologischen und ökonomischen Wandels in der Welt nicht bestehen können. Meine Hoffnung ist es, dass wir in Deutschland eine strategische Kultur entwickeln können, die sich jenseits vom parteipolitischen Blick auf kurzfristige Wahlergebnisse mit langfristigen Zielvorstellungen und Optionen intensiv und fortlaufend befasst.
Wolfgang Ischinger
Präsident des Stiftungsrats, Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz
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Zeitenwende breit diskutiert: Lehren aus der Bürger:innenbeteiligung zur Sicherheitsstrategie
Auch bei komplexen Fragestellungen können Bürger:innen einen wertvollen Beitrag leisten. Entscheidend für den Erfolg von Beteiligungsformaten ist, wie mit den Ergebnissen umgangen wird.