Article by Christoph Meyer

Deutschland muss zukünftige Realität positiv gestalten, nicht einfach hinnehmen

Posted in How to Strategy?
Share this post

Europa braucht neue strategische Ziele: die Ukraine in die EU integrieren und Russland zu einem friedlichen Nachbarn transformieren. Nur wer so ambitioniert denkt, kann langfristig aktiv die globale Ordnung gestalten.

Die deutsche Debatte um den russischen Eroberungskrieg in der Ukraine gibt bisher wenig Hoffnung auf das notwendige strategische Denken für eine Nationale Sicherheitsstrategie. Stattdessen gibt es einen Wettbewerb schlecht begründeter dystopischer Zukunftsvisionen im Dienst von kurzfristigen und vagen Zielen. Russland muss verlieren“ ist genauso wenig ein strategisches Ziel wie die Ukraine muss ihre territoriale Integrität wieder gewinnen“ oder das Völkerrecht muss verteidigt werden“. 

Inmitten des Händeringens über die bedrohliche Gegenwart findet kaum eine Diskussion darüber statt, welche langfristigen Ziele Europa gegenüber der Ukraine und Russland verfolgen sollte. Auch nicht darüber, wie eine bessere Sicherheitsordnung in Europa gestaltet werden kann oder wie die zukünftige Rolle Europas gegenüber den USA, China und regionalen Mächten aussehen sollte.


» Strategielose Außenpolitik läuft leicht Gefahr wankelmütig, kurzatmig und damit ineffektiv zu werden. «

— Christoph Meyer

Die Gefahr dabei ist, dass wichtige Entscheidungen, etwa über Waffenlieferungen für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland, hier und heute ohne Bezug auf ein längerfristiges Ziel oder Plan getroffen werden. Das macht es nicht nur schwer, kurzfristige Kosten und Risiken gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen. Strategielose Außenpolitik läuft leicht Gefahr wankelmütig, kurzatmig und damit ineffektiv zu werden. 

Statt Dystopien: Zukunft selbst positiv gestalten

Statt über langfristige Strategien zu diskutieren, wird ein irreführender Widerspruch zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik konstruiert und wenig hilfreiche historische Analogien bemüht. Da fordert ein Bischof, „[w]ir dürfen da nicht gesinnungsethisch reingehen, wir müssen nüchtern draußen bleiben“, während ein Soziologie-Professor vor Waffenlieferungen mit dem dystopischen Szenario einer unkontrollierbaren Eskalationsdynamik wie vor dem 1. Weltkrieg warnt. Andererseits ziehen Politiker Analogien zum Ausbruch und Verlauf des 2. Weltkriegs und Parallelen zwischen Putin und Hitler, um vor Zaudern, Zögern und Beschwichtigen zu warnen. Zwar sind solche Analogien bei Warnungen in der Außen- und Sicherheitspolitik unausweichlich. Doch ist dieser diskursive Wettbewerb von Dystopien auf der Basis hinkender Vergleiche keine gute Basis für strategisches Denken. 

Es ist zwar nicht falsch, auf mögliche Gefahren hinzuweisen und die Entwicklungspfade von Worst-Case-Szenarien auszuleuchten, um diese früh zu erkennen und zu verhindern. Hätte die deutsche Politik mehr und früher über diese Szenarien nachgedacht, wäre bei der Umsetzung des deutschen Atomausstiegs geopolitische Risiken und Energiesicherheit sicher höher bewertet worden. Auch wäre eine hohe Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland vermieden worden. Zudem hätte man spätestens nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 wissen können, dass Russland wirkungsvoller isoliert und abgeschreckt werden muss. 

Jedoch leidet diese Angst geleitete Debatte an einer Unterschätzung der Fähigkeit des Westens, die Zukunft selbst positiv zu gestalten, anstatt nur das Schlimmste zu vermeiden. Trotz der Verschiebung der weltwirtschaftlichen Gewichte, können Deutschland, Europa und seine transatlantischen Partner viel erreichen, wenn sie ambitionierte Ziele gemeinsam definieren und Schritt für Schritt langfristig verfolgen. Wer aber das langfristige Ziel nicht benennen kann, verliert leicht die Orientierung oder bleibt auf halber Strecke liegen.


» Die aktuelle von Angst geleitete sicherheitspolitische Debatte leidet an einer Unterschätzung der Fähigkeit des Westens, die Zukunft selbst positiv zu gestalten, anstatt nur das Schlimmste zu vermeiden. «

— Christoph Meyer

Strategien sind gerade dann notwendig, wenn die Kluft zwischen der heutigen Realität und der gewünschten Zukunft zu groß ist, um diese durch kurzfristige Schritte zu überbrücken. Eine politische Strategie gilt typischerweise für mindestens 10 – 15 Jahre. Sie muss in diesem Sinne nicht realistisch‘ sein, da sie beabsichtigt, die Strukturen für eine neue Realität zu schaffen. Um Wunschdenken zu vermeiden, braucht es aber eine schonungslose und ehrliche Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Macht‑, Wirtschafts- und Sozialstrukturen und der lang und kurzfristigen Trends, die diese verändern. Dabei sind sicherheits- und außenpolitische Strategien untrennbar miteinander verbunden.

Demokratische und friedliche europäische Nachbarschaft als Hauptziel

Ein wichtiges Ziel der deutschen Sicherheitsstrategie sollte die Vollendung der demokratischen Transformation der Ukraine und die darauf folgende Integration in die Institutionen der Europäischen Union sein. Zudem sollte das große und junge Land auch wirtschaftlich in den Europäischen Binnenmarkt integriert werden. Diese Ziele sollten Hand in Hand gehen mit einer aktiveren Politik gegenüber den anderen Staaten in Osteuropa. Etwa dem westlichen Balkan und dem Kaukasus, die entweder eine EU-Vollmitgliedschaft anstreben oder zumindest in den Binnenmarkt wollen. 

Europa war in den letzten 15 Jahren halbherzig und unentschieden in seiner Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik. Dies hatte zur Folge, dass die demokratische und wirtschaftliche Transformation stockte und Russlands Einfluss durch Bestechung und Erpressung wuchs. Europa war in einem geopolitischen Wettlauf mit Russland, ohne dies lange Zeit zuzugeben oder die richtigen Schlussfolgerungen für die Mittel und Wege seiner Nachbarschaftspolitik ziehen zu wollen. Die Entscheidungen und Signale der EU an Beitrittskandidaten und die Rede von Kanzler Olaf Scholz in Prag geben Hoffnung, dass diese Lehren in Brüssel und Berlin verstanden wurden.


» Ein wichtiges Ziel der deutschen Sicherheitsstrategie sollte die Vollendung der demokratischen Transformation der Ukraine und die darauf folgende Integration in die Institutionen der Europäischen Union sein. «

— Christoph Meyer

Das wichtigste strategische Ziel sollte es sein, die strukturellen Ursachen der größten Bedrohungen für Deutschland und Europa zu neutralisieren. Dies bedeutet vor allem, die Bedingungen für eine erfolgreiche innen- und außenpolitische Transformation von Russland zu schaffen. Das langfristige Ziel muss ein Nachbarland Europas sein, das den Westen nicht mehr als Gegner und Bedrohung, sondern als einen Partner und Freund betrachtet. Ein Land, das die Souveränität der unabhängigen Staaten in seiner Nachbarschaft akzeptiert und russische Minderheiten dort nicht mehr als Vorwand für Erpressung, Destabilisierung und territoriale Expansion nutzt. Und ein Land, das militärisch abrüstet und die Größe und Struktur seiner Streitkräfte an diese veränderten Ziele anpasst.

Es geht dabei auch um die Beseitigung von Russlands Unterstützung für den eigentlich abgewählten Diktator in Belarus, Alexander Lukaschenko, den Kriegsverbrecher Baschar al-Assad in Syrien oder die illegitime Militärregierung in Mali. Es geht um das Stoppen von Russlands Militarisierung der Arktis sowie der Befeuerung des atomaren Wettlaufs durch Drohungen mit Atomwaffen. Und das Stoppen der russischen Unterstützung populistischer und demokratiefeindlicher Kräfte in Europa und den USA durch Geld, Desinformation und das Hacken von Emailkonten liberaler Parteien und einzelnen Personen. Und es geht um die Vermeidung einer echten russischen Allianz mit einem zunehmend aggressiven China.

Die Transformation Russlands ist selbstredend kein kurzfristiges Ziel. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht allein Putins Krieg. Er ist tiefverwurzelt in einem weitverbreiteten Chauvinismus gegenüber slawischen Brüdervölkern‘. Einem sicherheitspolitischen Denken, das die Schaffung von Pufferstaaten und defensiver Expansion legitimiert und einem opportunistischen Verhältnis zu Gewalt und Völkerrecht. Die russischen Eliten brauchen ihren Suez-Moment des Scheiterns imperialer Träume und Machtinstrumente. Erst dann werden sie lernen, dass Sicherheit nur auf der Basis freundschaftlicher und respektvoller Beziehungen zu Nachbarstaaten und völkerrechtlichen Normen möglich ist. Oder dass legitimes Regieren und erfolgreiches Wirtschaften nicht verträglich sind mit der Repression von Opposition und freien Medien, Einschüchterung sowie grassierender Korruption.


» Die russischen Eliten brauchen ihren Suez-Moment des Scheiterns imperialer Träume und Machtinstrumente. Erst dann werden sie lernen, dass Sicherheit nur auf der Basis freundschaftlicher und respektvoller Beziehungen zu Nachbarstaaten und völkerrechtlichen Normen möglich ist. «

— Christoph Meyer

Die Erreichung dieses Ziels wird mittelfristig viel Geld kosten, aber langfristig Deutschland und Europa viel mehr Geld sparen. Zum Vergleich: Die deutschen Verteidigungsausgaben betrugen in den 30 Jahren vor dem Mauerfall durchschnittlich 3,36 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), fielen jedoch in den 30 Jahren danach auf ein Durchschnittsniveau von 1,4 Prozent mit dem Tiefpunkt von 1,1 Prozent 2014, dem Jahr des ersten russischen Überfalls auf die Ukraine. Viele glaubten, aktive Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit seien nicht mehr notwendig, da Deutschland und Europa von Freunden umgeben seien. Hätte Deutschland in den Jahren 1990 – 2020 den gleichen Prozentsatz des BIP wie in den 30 Jahren zuvor aufgebracht, wäre dies eine riesige Summe von etwa 1.380 Milliarden Euro. Selbst die 1990 Vergleichsbasis von 2,5 Prozent ergibt noch eine Friedensdividende‘ von rund 810 Milliarden Euro. Heute muss Deutschland aufgrund der Bedrohungslage wieder investieren, da der bisherige Ansatz, Russland durch wirtschaftliche Verflechtung und diplomatische Bemühungen einzubinden, katastrophal gescheitert ist. 

Europa muss neue Wege finden, die russische Opposition und Medien zu stärken und die eigene Kommunikation zu verbessern, da der nachhaltige Wandel Russlands von innen kommen muss. Und es muss sich darüber im Klaren werden, unter welchen Bedingungen welche Sanktionen gelockert werden können. Ein Ansatz wäre, die Liste der sanktionierten russischen Eliten auf 6.000 oder mehr Einzelpersonen auszuweiten. Dabei gilt es, gleichzeitig Bedingungen festzulegen, wie einzelne Personen aus verschiedenen Berufsgruppen wieder von der Liste gestrichen werden können.


» Heute muss Deutschland aufgrund der Bedrohungslage wieder investieren, da der bisherige Ansatz, Russland durch wirtschaftliche Verflechtung und diplomatische Bemühungen einzubinden, katastrophal gescheitert ist. «

— Christoph Meyer

Von der Friedensdividende zur ambitionierten Außenpolitik

Der Pessimismus über die Fähigkeit Europas und des Westens die Zukunft erfolgreich zu gestalten, mag vor dem Hintergrund der krisenhaften letzten 10 Jahre verständlich sein. Diese Krisenjahre waren jedoch zumindest teilweise eine Folge des Rückzugs der USA bei gleichzeitiger Zögerlichkeit und Uneinigkeit Europas. Sie schufen ein Machtvakuum, in das andere Akteure wie Russland, China, Iran und Saudi-Arabien vorstießen. Der wirtschaftliche und politische Aufstieg asiatischer Staaten wie China, Südkorea oder Singapur sind selbst Beispiele des Erfolges deren nationaler Entwicklungsstrategien. 

Deutschland war der Hauptprofiteur der langfristigen Strategie des Westens, die zur friedlichen Auflösung derer Sowjetunion führte. Es profitierte als europäische Mittelmacht auch von der EU-Erweiterungsstrategie der 1990er Jahre, die half gewalttätige Konflikte zu vermeiden, demokratische Institutionen zu stärken und den Binnenmarkt zu vergrößern und zu beleben. Heute brauchen wir eine Renaissance von aktiver und langfristiger Außenpolitik, die den Mut hat, ambitionierte Ziele zu definieren und durchzusetzen. Allerdings müssen neue Mittel und Wege des Einflusses gefunden werden, um dem gewachsenen Gewicht von aufstrebenden Staaten in Afrika, Südamerika und Asien Rechnung zu tragen. Etwa durch die Abgabe von Stimm- und Vetomacht in internationalen Organisationen, die einer dringenden Reform bedürfen, wie dem UN-Sicherheitsrat.

Kernpunkte:

  1. In der aktuellen sicherheitspolitische Debatte mangelt es an positiven Visionen für Europas Zukunft. Langfristige Ziele sind allerdings notwendig für die Entwicklung von ambitionierten sicherheits- und außenpolitischen Strategien.
  2. Ein wichtiges Ziel für Europa ist die Vollendung der ukrainischen Demokratisierung und anschließende Integration in die EU
  3. Ein friedliches Russland muss das Hauptziel der europäischen Sicherheitsstrategie sein. Dies gelingt durch die Stärkung der russischen Opposition, innenpolitische Transformationen und ein Umdenken der dortigen Eliten. 

Die Möglichkeiten von und Erwartungen an Deutschland haben sich geändert, insbesondere nach dem Brexit und der US-Orientierung auf den Pazifik. Die deutsche Strategievergessenheit ist ein überlebtes Erbe des Kalten Krieges, als das geteilte Land außenpolitisch nur begrenzt handlungs- und strategiefähig war. Deutschlands europäische Partner und Nachbarn, insbesondere, aber nicht nur, im Osten, erwarten außenpolitische Führung. Nicht das Verstecken vor den Entscheidungen anderer. Die Bundesregierung hat verstanden, wie wichtig der Beitrag Deutschlands zu europäischer Sicherheit ist und es deshalb erheblicher und langfristiger Anstrengungen benötigt. Was bisher fehlt, auch in der jüngsten Grundsatzrede der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, ist ein Verständnis von Sicherheitspolitik nicht nur als Daseinsvorsorge“ und zentrale Staatsaufgabe“, sondern auch als Mittel zur langfristigen außenpolitischen Gestaltung und Transformation von regionaler und globaler Ordnung. Es bleibt die Hoffnung, dass die zukünftige Nationale Sicherheitsstrategie einen Wendepunkt im strategischen Denken der deutschen Außenpolitik markiert.


Christoph Meyer

Professor für Europäische und Internationale Studien, King's College London

Keep on reading