Gezielte Entflechtung als Friedenspolitik
(Anja BaHu /Unsplash)
Deutschland muss Abhängigkeiten vom chinesischen Markt abbauen und wirtschaftlich diversifizieren. Dafür sollte der Staat die richtigen Anreize und regulatorischen Vorgaben setzen. Das Risiko für Investitionen muss bei den Unternehmen liegen.
Vor genau zehn Jahren rief Außenminister Guido Westerwelle in Peking seinem chinesischen Amtskollegen und der Festgemeinde zum 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen begeistert zu: „Lang lebe die deutsch-chinesische Freundschaft.“ Westerwelle hatte in seiner Rede von der Tiefe der strategischen Partnerschaft und der wirtschaftlichen Beziehungen geschwärmt und davon, dass beide Länder „in der Champions League der Globalisierung“ spielten. Zum 50. Jahrestag muss die Botschaft eine ganz andere sein, weil wir es mit einem anderen China zu tun haben. Unter Xi Jinping, der kurz nach Westerwelles Besuch an die Staats- und Parteispitze rückte und sich als Herrscher mit unbegrenzter Amtszeit sieht, spielt China in der Champions League der Großmachtpolitik. Xi sieht Pekings autoritären Staatskapitalismus im Konflikt mit dem Westen und übt dafür den Schulterschluss mit Putin. Aus deutscher Sicht ist das China Xis heute vor allem strategischer Rivale. Nur wenn wir unsere Abhängigkeiten von China durch gezielte Entflechtung reduzieren, können wir uns weniger erpressbar machen. Und nur wenn wir weniger erpressbar sind, haben wir eine Chance, Peking glaubwürdig abzuschrecken, Taiwan nicht mit Zwang oder Gewalt unter seine Kontrolle zu bringen.
» Aus deutscher Sicht ist das China Xis heute vor allem strategischer Rivale. Nur wenn wir unsere Abhängigkeiten von China durch gezielte Entflechtung reduzieren, können wir uns weniger erpressbar machen. «
Gezielte Entflechtung heißt nicht Entkopplung. Niemand in verantwortlicher Position im Westen redet einer kompletten Entkopplung das Wort. China selbst treibt seit Jahren sehr strategisch eine selektive Entkopplung voran. Pekings Ziel ist dabei, eigene Verwundbarkeiten zu reduzieren, die Wertschöpfung im eigenen Land zu maximieren sowie die Skaleneffekte durch Dominanz im riesigen Heimatmarkt als globalen Wettbewerbsvorteil für chinesische Unternehmen zu nutzen. In einer Rede im April 2020 sagte Xi sehr klar, dass man in allen sicherheitsrelevanten Bereichen in der Produktion vom Ausland unabhängig werden will.
China setzt Abhängigkeiten zunehmend als Waffe ein
Gleichzeitig, so Xi, müsse man die „Abhängigkeit internationaler Produktionsketten von China verstärken zur Bildung einer starken Abschreckungs- und Vergeltungsfähigkeit gegen Ausländer“. In diesem Sinne schärft Peking seine Fähigkeiten, Abhängigkeiten wie Marktzugang als Waffe zu benutzen. Ende 2021 etwa blockierte Peking Güter, die in Litauen produziert werden oder litauische Komponenten enthalten, darunter auch Waren des deutschen Herstellers Continental. Dieser fundamentale Angriff auf den europäischen Binnenmarkt erfolgte als Vergeltung dafür, dass Litauen die Vertretung Taiwans diplomatisch aufgewertet hatte. Gegenüber der Bundesregierung drohte Peking mit Nachteilen für deutsche Unternehmen, falls Huawei von der kritischen Infrastruktur 5G ausgeschlossen wird oder das Staatsunternehmen Cosco keine Erlaubnis erhält, Anteile an einem Terminal am Hamburger Hafen zu übernehmen.
Dass China auch zu einem großen Maß von Europa als Markt und Quelle von Technologie abhängig ist, sollte uns dabei nicht beruhigen. Das sollte die Lehre aus Russland sein. Moskau war auch stark von westlichem Geld und westlicher Technologie abhängig und entschied sich dennoch dafür, dies ideologischen Zielen mit der Invasion der Ukraine zu opfern. Den Fehler, unsere Rationalitätsannahmen zugrunde zu legen und die Rolle von Ideologie zu unterschätzen, sollten wir nicht noch einmal machen.
Kernpunkte:
- Das China Xis ist heute vor allem ein strategischer Rivale Deutschlands. Nur durch gezielte Entflechtung kann die Bundesregierung Abhängigkeiten reduzieren und Peking in der Taiwan-Frage glaubwürdig abschrecken.
- Die Lehre aus Russlands Angriffskrieg: Chinas eigene Verflechtungen mit Europa als Markt und Quelle von Technologie sind keine Garantie für geopolitische Zurückhaltung.
- Die Folgen eines Kriegs zwischen den USA und China wären eine nahezu vollständige wirtschaftliche Abkopplung Europas von China und ein Komplettverlust aller Investitionen.
- Die Bundesregierung sollte im europäischen Verbund konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeiten durch Diversifizierung vorantreiben. Zudem muss Deutschland mit Partnern in glaubwürdige Abschreckung Pekings investieren.
Jeder sollte den Aufsatz „Engineers of the Soul” des Australiers John Garnaut genau lesen. Er beschreibt, wie Xi Jinping an Mao anknüpft, totalitäre Ideologie wieder in das Zentrum der KP-Herrschaftspraxis stellt und sich dabei im Kampf mit den USA und dem Westen sieht. Weitere Pflichtlektüre sollte das im August 2022 veröffentliche chinesische White Paper zu „The Taiwan Question and China’s Reunification in the New Era“ sein. Dieses bekräftigt Pekings Ziel, Taiwan baldmöglichst friedlich, aber wenn nötig auch mit Gewalt unter Kontrolle zu bekommen. Auch wenn eine Blockade oder ein Angriff auf Taiwan aus unserer Sicht nicht rational sein mag, weil Peking damit einen großen Teil seiner wirtschaftlichen Prosperität aufs Spiel setzt, müssen wir unsere wirtschaftlichen Beziehungen so strukturieren, dass wir auf das Eintreten des Szenarios vorbereitet sind. Die Schockwellen würden die russische Invasion der Ukraine in den Schatten stellen. Wir hätten mit einem direkten Krieg zwischen Deutschlands Schutzmacht USA und China zu tun. Wie US-Präsident Biden mehrfach versichert hat, würden US-Truppen bei einem Angriff auf der Seite Taiwans kämpfen.
» Auch wenn eine Blockade oder ein Angriff auf Taiwan aus unserer Sicht nicht rational sein mag, weil Peking damit einen großen Teil seiner wirtschaftlichen Prosperität aufs Spiel setzt, müssen wir unsere wirtschaftlichen Beziehungen so strukturieren, dass wir auf das Eintreten des Szenarios vorbereitet sind. «
Entflechtung ist die Bedingung für weitere Freundschaft
Egal, was die Präferenzen der deutschen Industrie sind: eine nahezu vollständige wirtschaftliche Abkopplung zwischen den USA und Europa auf der einen und China auf der anderen Seite mit einem Komplettverlust aller Investitionen wäre die Folge eines Kriegs zwischen den USA und China. Wenn deutsche Unternehmen wie BASF darauf bauen, im Falle eines Taiwan-Kriegs könne man das China-Geschäft geordnet abtrennen, verschätzen sie sich kolossal. Massive von der US-Regierung betriebene Sanktionen würden dem entgegenstehen.
Deutschland sollte im europäischen Verbund konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeiten durch Diversifizierung vorantreiben. In einer sozialen Marktwirtschaft gibt die Regierung Unternehmen in der Regel nicht vor, in welchen Märkten sie wie stark investieren und woher sie Rohstoffe und industrielle Vor- und Zwischenprodukte beziehen soll. Aber der Staat kann und sollte die richtigen Anreize und regulatorische Vorgaben setzen gegen eine Vertiefung der Abhängigkeiten vom chinesischen Markt und für Diversifizierung. Politisch sollte die Bundesregierung das Risiko für Chinainvestitionen klar an die Unternehmen zurückgeben. Gleichzeitig sollte die Regierung sicherstellen, dass deutsche Unternehmen und auch deutsche Forscher keinen Beitrag zum Aufbau chinesischer Kapazitäten in Militär oder Repressionsapparat leisten.
» Politisch sollte die Bundesregierung das Risiko für Chinainvestitionen klar an die Unternehmen zurückgeben. Gleichzeitig sollte die Regierung sicherstellen, dass deutsche Unternehmen und auch deutsche Forscher keinen Beitrag zum Aufbau chinesischer Kapazitäten in Militär oder Repressionsapparat leisten. «
Zudem muss Deutschland mit Partnern in glaubwürdige Abschreckung Pekings investieren, den friedlichen Status Quo zu Taiwan nicht durch Zwang und Gewalt zu verändern. Abschreckung ist nur glaubwürdig, wenn wir unsere eigenen Abhängigkeiten (übrigens auch von Taiwan etwa mit Blick auf Halbleiterproduktion) reduzieren. Gezielte Entflechtung ist Friedenspolitik. Und auch der einzige Weg, Bedingungen der Freundschaft zwischen Deutschen und Chines:innen bestmöglich zu erhalten.
Dieser Text erschien ursprünglich in der Printversion des Tagesspiegel vom 11. Oktober 2022.
Thorsten Benner
Gründer & Direktor, Global Public Policy Institute (GPPi)
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