Warum Deutschland einen Rat für Strategische Vorausschau braucht

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(John Towner /​Unsplash)

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Eine nationale Sicherheitsstrategie schafft nur dann Mehrwert, wenn sie eine Kultur des Lernens erlaubt und institutionalisiert. Ein neuer Rat für Strategische Vorausschau könnte sich dabei als wichtiges Puzzleteil erweisen.

Wenn es Krieg gibt, haben Politiker keine Zeit für Warnungen vor künftiger Gewalt. Der Preis für solche blinden Flecken ist allerdings enorm. Warum wurden der Arabische Frühling, der Syrienkrieg, die COVID19-Pandemie und Russlands Kriege gegen die Ukraine weder von Frühwarnern, noch von Experten, noch von der Politik vorhergesehen? Gründe gibt es zu Hauf: Oft hindern Wunschdenken oder ein Tunnelblick den Blick auf Unangenehmes. Auch will niemand eine Krise herbeireden, zudem ermüden wiederholte Kassandrarufe. Wer will außerdem sein Selbstbild, etwa als Zivilmacht, preisgeben? Und wer liebt schon den Überbringer schlechter Nachrichten? 

Dass deutsche Politik nicht strategiefähig ist, wird seit langem beklagt. Was der Strategiefähigkeit entgegensteht, sind Ressortegoismen, das Festhalten an Legitimationsrhetorik, die Loyalität von Abgeordneten gegenüber ihrer“ Regierung und eine Friedensforschung, die mehr ihr Weltbild pflegt als Realentwicklungen untersucht. Der Sachverstand der Sachverständigen wiederum liegt nicht selten daneben, übersieht kritische Fälle oder betreibt nur Monitoring. Zukunftsszenarien sind meist vage, essayistisch, irreführend oder entbehren reellen Handlungsoptionen. Vorhersagen gründen in der Regel auf Fortschreibungen der Gegenwart, Analogien zur Vergangenheit oder schlicht auf Alarmismus. Gewalt ist freilich nicht überdeterminiert durch Strukturen, sondern sie wird von Menschen verübt. Was fehlt, ist die Untersuchung der Organisation und Organisatoren von Gewalt.

Kernpunkte:

  1. Gelungene Vorausschau ist ein ständiger Prozess des Lernens, der Selbstreflexion und der Anpassung – und leistet so einen Beitrag zur strategischen Kultur.
  2. Deutschland sollte die Erfahrungen anderer Länder systematisch auswerten. Finnland, Großbritannien, die Niederlande, Österreich, Singapur und die USA bieten je unterschiedliche Anknüpfungspunkte dafür.
  3. Ein Rat für Strategische Vorausschau könnte, mandatiert durch den Bundestag, Orientierung angesichts globaler Herausforderungen bieten und eine kohärente deutsche Außen- und Sicherheitspolitik fördern.

Bessere Entscheidungen in der Gegenwart

Strategische Vorausschau unterscheidet sich in wichtigen Aspekten von Krisen- und Erwartungsmanagement. Vorausschau sollte nicht mit kann sein, kann auch nicht sein“ alles im Ungefähren belassen, sondern wie der Wetterbericht unser Entscheidungsverhalten in der Gegenwart beeinflussen. Megatrends, Bedrohungen, Risiken, kritische Unsicherheiten und eigene Prioritäten müssen identifiziert werden, damit Vorausschau funktioniert. Kernfragen können sein: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ereignisse eintreten? Was müssten wir heute schon tun? Auch kann durch Vorausschau veranschaulicht werden, welche eigenen Interessen das politische Handeln leiten. Und die Politik kann Szenarien nutzen, um zu verdeutlichen, wo Gefahren für die eigenen Werte und Interessen lauern, um die Öffentlichkeit über potenzielle Risiken zu informieren und auf diese vorzubereiteten.

Strategische Vorausschau bedeutet auch: Lernen aus Krisen. Das kann nur stattfinden, wenn Aufarbeitung unabhängig von politischer Einflussnahme geschieht und die Grundannahmen des eigenen Handelns infrage stellen darf. Aus Afghanistan, der Handlungsblockade der EU, den Gewaltkonflikten im Nahen Osten, dem Zusammenbruch von Staatlichkeit in Subsahara-Afrika und dem Krieg gegen die Ukraine gilt es, Konsequenzen auch für die Praxis von Vorausschau zu ziehen. Krisen in den Bereichen Sicherheit, Energie, Entwicklung, Umwelt oder Gesundheit werden bisher zu wenig also interdependent betrachtet. Nötig ist eine ganzheitliche Herangehensweise. 


» Strategische Vorausschau bedeutet auch: Lernen aus Krisen. Das kann nur stattfinden, wenn Aufarbeitung unabhängig von politischer Einflussnahme geschieht. «

— Andreas Heinemann-Grüder

Die Erfahrungen anderer Länder sollten systematisch ausgewertet werden. In Finnland wird einmal pro Legislaturperiode ein Government Foresight Report“ der Premierministerin vorgelegt, die den Zukunftsausschuss des Parlaments einbindet. Es gibt ein National Foresight Network, eine Government Foresight Group und ein Netzwerk nationaler und internationaler Experten. In Großbritannien ist ein umfassender gesamtstaatlicher Foresight-Prozess etabliert worden, der kurzfristige Produkte (sogenannte Policy Future Projects und Sigma Scans), aber auch umfassende Trainings und Vernetzung anbietet. In den Niederlanden gibt es zwar keinen dauerhaft institutionalisierten Foresight-Prozess, aber einen Steuerkreis im Wissenschaftsministerium, der zeitlich begrenzte Projekte mit den Schwerpunkten Wissenschaft, Forschung, Technologie und nationale Sicherheit anstößt. In Österreich existiert interministeriell ein Lagebildprozesses mit sowohl kurzfristigen Analysen als auch strategischer Vorausschau, Risikoanalysen und der Entwicklung gesamtstaatlicher Handlungsoptionen. In Singapur ziehen sich Foresight-Strukturen durch die gesamte öffentliche Verwaltung. Es gibt ein Strategic Futures Network, in dem jedes Ministerium vertreten ist, ein Risk Assessment and Horizon Scanning Centre und umfassende Trainings für Anwender und Entscheidungsträger. In den USA schließlich identifiziert der Global Trends Report“ einmal pro Legislaturperiode langfristige Trends und leitet daraus Szenarien für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre ab. 

Wie ein Rat für Strategische Vorausschau aussehen könnte

Deutschland braucht einen Rat für Strategische Vorausschau – und die Nationale Sicherheitsstrategie ist eine Gelegenheit, ihn auf den Weg zu bringen. Vergleichbar dem Rat der Wirtschaftsweisen könnte ein solches Gremium einen Mehrwert leisten wie ihn keines der existierenden Formate bisher liefert. Die dem Rat angehörenden Expert:innen würden kontinuierlich Analysen globaler Trends und Herausforderungen vorlegen, über die dann öffentlich diskutiert würde. Zentrale Aufgabe des Rates für Strategische Vorausschau wäre es zudem, divergierende Koalitionsinteressen zu überbrücken und eine ressortgemeinsame und kohärente deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu fördern. Das wird allerdings nur funktionieren, wenn der Bundestag seine Rolle als Ort für politische Debatten, für die Mandatierung und Rechenschaftslegung der Bundesregierung, für die informierte Kommunikation mit der Öffentlichkeit und für die Legitimation politischen Handelns ernstnimmt und dafür auch qualifiziert ist. 

Abgeordnete des Bundestages sollten ertüchtigt werden, ihre Aufsichtspflicht über die Regierung auszuüben und Alternativen zu formulieren – und damit das Vertrauen der Bürger:innen in die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen erneut zu stärken. Die Analysen eines Rates für Strategische Vorausschau können Orientierung angesichts globaler Herausforderungen bieten. Bei regelmäßigen Anhörungen im Bundestag könnten sich Abgeordnete außerdem mit den Ansichten von Verbündeten und Nachbarn vertraut machen, denn nur durch qualifizierte Debatten im Bundestag kann der Wahrnehmungshorizont auf längerfristige Trends gerichtet werden. 


» Ein künftiger Rat für Strategische Vorausschau sollte durch den Bundestag mandatiert werden. Der Rat könnte dadurch entscheidenden Input unabhängig vom tagesaktuellen Zugriff der politischen Exekutive liefern. «

— Andreas Heinemann-Grüder

Ein künftiger Rat für Strategische Vorausschau sollte deshalb durch den Bundestag mandatiert werden. Der Rat könnte dadurch entscheidenden Input unabhängig vom tagesaktuellen Zugriff der politischen Exekutive liefern. Formal könnte eine Bundesstiftung langfristig die Mittelvergabe sichern. Eine gemeinnützige GmbH könnte wiederum die Aufsicht über das Management gewährleisten. Ein Beirat, bestehend aus Abgeordneten der Regierungsparteien und der Opposition, Mitgliedern der Bundesregierung und Wissenschaftlern würde den Rat mit konkreten Aufgaben betrauen, strategische Themen für einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren festlegen, Anforderungen an die Forschungsförderung formulieren, die Abstimmung mit strategischer Vorausschau bei Partnern sicherstellen und die Synthese von Modellen und Einzelstudien gewährleisten. Um das zu leisten, bedürfte es mehr als nur eines losen Netzwerks, sondern eines Kerns von circa fünfzehn interdisziplinären Expert:innen.

Multiple Krisen

Die wichtigsten Ziele des Rates für Strategische Vorausschau wären es, Megatrends sowie die Triebkräfte von und Wechselwirkungen zwischen Krisen zu identifizieren; die Krisenfrüherkennung, Krisenprävention sowie Reaktions- und Strategiefähigkeit zu stärken; Szenarien zu entwickeln und zu synthetisieren; Gelegenheiten, Politikoptionen und Einflusspotentiale zu identifizieren; institutionelle Arrangements der Krisenerkennung und ‑reaktion zu bewerten; sowie die öffentliche Willensbildung, Verständigung und Legitimation zu unterstützen. Die wichtigsten Adressaten des Rates wären der Bundestag, Parteigremien, Ministerien, die Öffentlichkeit und deutsche Vertreter:innen in internationalen Organisationen. 


» Eine nationale Sicherheitsstrategie schafft nur Mehrwert, wenn sie das Lernen erlaubt und institutionalisiert, wenn Strukturen geschaffen und Anforderungen formuliert werden und neue Erkenntnisse wirklich ins System diffundieren. «

— Andreas Heinemann-Grüder

Schwerpunktthemen sollten die Dynamiken des Systemkonfliktes mit Autokratien, die Krise des Multilateralismus und des Völkerrechtes, die Politisierung von Ungleichheit, die transatlantischen Beziehungen und die Resilienz politischer Regime im globalen Süden sein. Beiträge und Produkte wären Jahresgutachten zu Schwerpunktthemen, eine Strategic Review (etwa zur Umsetzung deklarierter Ziele), Synthesen von Szenarien, Anhörungen, Plattformen für den Wissens- und Meinungsaustausch, die Sammlung und Modellierung von Daten sowie die Organisation von Konferenzen und Trainings. 

Eine nationale Sicherheitsstrategie schafft nur Mehrwert, wenn sie das Lernen erlaubt und institutionalisiert, wenn Strukturen geschaffen und Anforderungen formuliert werden und neue Erkenntnisse wirklich ins System diffundieren. Gelungene Vorausschau ist ein ständiger Prozess des Lernens, der Selbstreflexion und der Anpassung – ein Beitrag zur strategischen Kultur.


Andreas Heinemann-Grüder

Senior Researcher, Bonn International Centre for Conflict Studies

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