Article by Marina Rudyak

Effektive Chinapolitik braucht strategische Empathie braucht mehr Chinakompetenz

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Spiegelung einer Gruppe von Journalist:innen während einer Pressekonferenz am Rande der Jahreskonferenz der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 2022. (MARKCRISTINO/EPA-EFE/Shutterstock)

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Erfolgreiche Politik gegenüber China setzt voraus, China zu kennen – doch daran hakt es noch. Die Bundesregierung muss in den Ausbau der strategischen Übersetzungs- und Analysekompetenz in Deutschland investieren.

Strategische Empathie“ – für den Ex-General und früheren Sicherheitsberater der US-Regierung H.R. McMaster ist sie die Voraussetzung für eine effektive Außenpolitik, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen will. Das Konzept der strategischen Empathie geht auf den Historiker Zachary Shore zurück und beschreibt die Fähigkeit, sich in das Denken eines Gegners hineinzuversetzen und zu erkennen, was ihn antreibt, welche Ideologien und Emotionen, und auf Basis welcher Geschichten er seine Wirklichkeit konstruiert. 

McMaster, selbst ein promovierter Militärhistoriker, gilt als ein kühler Stratege. Er diente in Afghanistan und dem Irak – und er macht einen Mangel an strategischer Empathie, mehr noch, einen strategischen Narzissmus“ für das Scheitern der USA in beiden Kriegen verantwortlich. Hinter letzterem Begriff, ursprünglich von Hans Morgenthau und Ellen Person geprägt, steht eine Kritik der Selbstbezogenheit der US-amerikanischen Außenpolitik, weil sie zu einer Entfremdung von anderen Nationen und deren Streben führe und dazu verleite, die Grenzen der eigenen Einflussmöglichkeiten zu überschätzen. Diese Kritik lässt sich durchaus auf den ganzen Westen“ übertragen, der in seinem Umgang mit dem Rest“ der Welt zu oft die agency, also die Selbstwirksamkeit, anderer Staaten negiert, was dazu führt, dass Strategien eher auf mentalen Konstrukten der Welt basieren, als darauf, wie diese tatsächlich ist. 

Kernpunkte:

  1. Veränderungen in der Rhetorik Chinas können als Frühwarnindikator für eine Eskalation hinsichtlich Taiwan dienen. Dafür braucht es jedoch China-Expert:innen, die Parteidebatten lesen, übersetzen und dekodieren können.
  2. Ein resilienter Umgang mit China setzt maximale Informiertheit und Kontextwissen voraus. Beides ist in Bundesregierung und Bundestag kaum vorhanden. 
  3. Was es braucht: mehr Chinakompetenz in Bundesregierung und Bundestag, mehr Vernetzung zwischen Politik und Chinaforschung über Berlin hinaus und einen gezielten Auf- und Ausbau der künftigen Chinaexpertise über neue Studiengänge und eine Bundesakademie.

Die Rhetorik der Kommunistischen Partei ernst nehmen

McMaster sieht im strategischen Narzissmus die größte Gefahr für die strategischen Fähigkeiten eines Landes. An keinem Beispiel wird das gerade so deutlich, wie an China. Sehr lange war man im Westen überzeugt davon, dass China, einmal aufgenommen in die Weltgemeinschaft, dem Westen nach und nach gleicher werden, also seine Wirtschaft und Politik liberalisieren, würde. Dass dies nicht eintraf, kam für viele einem Schock gleich. Dabei hat China eigentlich genau das getan, was es schon immer angekündigt hatte: Seit Mao Zedong, über Deng Xiaoping bis hin zu Xi Jinping, haben alle chinesischen Staatsführer betont, dass China nicht den Weg der westlichen“ Modernisierung, sondern den einer Modernisierung chinesischen Stils“ beschreiten würde. Wie diese zu gestalten sei, mag sich in den verschiedenen Regierungsperioden in Nuancen unterschieden haben – aber eines betonte die Kommunistische Partei Chinas (KP) immer wieder: Modernisierung meint Technologie und Wirtschaft, nicht aber die Politik im Sinne einer liberalen Demokratie. Nur schenkte man der Parteirhetorik im Westen offenbar keine Beachtung. 


» Wer Chinas Strategien unter Xi Jinping verstehen will, muss lesen, was die Partei sagt und es ernst nehmen. «

— Marina Rudyak

Wer Chinas Strategien unter Xi Jinping verstehen will, muss lesen, was die Partei sagt und es ernst nehmen. Timothy Heath, China-Analyst bei der RAND Corporation, erklärte kürzlich, woran zu erkennen sei, dass China tatsächlich eine Invasion Taiwans vorbereitet: rhetorische Abwertung des außenpolitischen Kernziels des chinesischen Traums“ einerseits und Aufwertung des Ziels Wiedervereinigung“ andererseits, umfassende Indoktrination von Parteikadern über die Bedeutung der Wiedervereinigung und ihre Pflichten zur Unterstützung damit einhergehender Kriegsanstrengungen sowie Propaganda, Massenkundgebungen und feurige Reden von Spitzenpolitiker:innen, die darauf abzielen, die öffentliche Unterstützung zu stärken und die Bevölkerung psychologisch auf die bevorstehenden Härten vorzubereiten. 

Laut Heath wären die politischen Vorbereitungen vergleichbar mit denen des Koreakrieges. Nichts davon sehe man aktuell. Daher warnt er davor, Chinas Konfliktbereitschaft zu überschätzen – auch wenn für ihn außer Frage steht, dass eine stringente Abschreckungsposition dazu beitragen kann, Peking von einem Angriff abzuhalten – weil dies Spannungen verschärfen und somit die Eskalationsspirale des Sicherheitsdilemmas beschleunigen könnte. 

Rhetorik als Frühwarnindikator

Das Gute daran, wenn man das so formulieren will: Egal, wie sehr sich China von der Welt abschottet, Parteidirektiven werden weiterhin in Umlauf gebracht werden, Propaganda wird weiterhin veröffentlicht werden und Slogans werden weiterhin durch das System zirkulieren – weil sie für das Funktionieren der KP essenziell sind. Rhetorische Veränderungen sind somit so etwas wie ein Frühwarnindikator für eine Eskalation. Aus westlicher Perspektive besteht die Herausforderung vielmehr in der sprachlichen Barriere: man braucht China-Expert:innen, die die Parteidebatten lesen, übersetzen und dekodieren können. Das Parteisprech“ ist gestelzt, undurchsichtig und vollgestopft mit Slogans, deren volle Bedeutung sich einem erst erschließt, wenn man mit ihrer intellektuellen Genealogie und der Geschichte ihrer Verwendung vertraut ist. Diese sprachliche Vertrautheit zu erlangen, braucht nicht nur fließendes Chinesisch, sondern auch eine konstante chinesische Mediendiät mit Propagandakost. 

Im Unterschied zu anderen Ländern ist diese Art von Chinakompetenz in der Bundesregierung mit Ausnahme des Auswärtigen Amtes kaum vorhanden. Auch im wissenschaftlichen Dienst des Bundestages gibt es keine China-Expertise. Der Sprachendienst des Parlaments hält keine Kapazitäten vor, um umfangreiche Politikdokumente aus dem Chinesischen zu übersetzen. Als nach dem letzten Parteitag der KP im Oktober 2022 ein Bundestagsabgeordneter eine deutsche Übersetzung von Xi Jinpings Parteitagsrede anfragte, lautete die Antwort aus dem Sprachendienst, die Rede liege nicht vor. Bei Texten von mehr als 5000 Zeichen müssten die Übersetzungen fremdvergeben und von den Abgeordneten selbst bezahlt werden. 

Nationale Sicherheit darf nicht auf Second-Hand-Wissen beruhen 

China ist Deutschlands größter Warenhandelspartner. Bei kritischen Rohstoffen ist Deutschland massiv von China abhängig. Trotz der Debatte über Entkopplung herrscht weitgehender Konsens darüber, dass ein Zurückfahren der wirtschaftlichen Verbindungen mit China kurzfristig kaum ohne erhebliche ökonomische und politische Kollateralschäden verwirklicht werden kann. Angesichts der Tatsache, dass China ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmacht und im Lichte der Verflechtungen Chinas mit dem Global Süden ist es illusorisch, auf eine Zukunft ohne China zu setzen – es sei denn, China implodiert und fällt in die Armut zurück, was kein Interesse einer werteorientierten Politik Deutschlands sein kann. 


» Statt eigene strategische Übersetzungskompetenz vorzuhalten, verlässt man sich in Deutschland in weiten Teilen auf offizielle chinesische Übersetzungen oder Auswertungen aus dem US-amerikanischen Raum. «

— Marina Rudyak

Daraus folgt, dass im Sinne der nationalen Sicherheit Deutschlands ein resilienter Umgang mit China größtmögliche Informiertheit und Kontextwissen voraussetzt. Doch statt eigene strategische Übersetzungskompetenz vorzuhalten, verlässt man sich in Deutschland in weiten Teilen auf offizielle chinesische Übersetzungen oder Auswertungen aus dem US-amerikanischen Raum. Erstere sind insofern problematisch, als dass sie Teil des Propagandaapparats und also selektiv kuratiert sind. Bei den amerikanischen Übersetzungen handelt es sich – wie bei Übersetzungen generell – um Interpretationen, die sich an nationalen Schwerpunkten ausrichten, welche in Deutschland möglicherweise anders gelagert sind als in den USA

Es droht ein Mangel an Verhandlungsdolmetschern

Neben der fehlenden Übersetzungs- und Dekodierungskompetenz gibt es auch zu wenige Sprachmittler:innen für die Kombination Chinesisch-Deutsch, die auf einem Topniveau dolmetschen können. Das Auswärtige Amt hat zwar eigene Dolmetscher:innen (die Mehrheit davon in den Vertretungen in China), diese stehen aber nur dem Amt selbst sowie dem Bundeskanzleramt und dem Bundespräsidialamt zur Verfügung. Der Staatsbesuch von Xi Jinping in 2014 trieb die Ministerien zur schieren Verzweiflung, denn ausgerechnet da waren die meisten deutschen Konferenzdolmetscher:innen für ein internationales Event bei einem großen deutschen Automobilhersteller in Barcelona gebucht. Dieser Mangel dürfte sich in den nächsten Jahren nur verschlimmern, denn viele Dolmetscher:innen sind bereits jenseits der 50 und es kommt kaum Nachwuchs nach. Es gibt keinen Studiengang in Deutschland mehr, der in Konferenzdolmetschen Chinesisch-Deutsch ausbildet. 

Unbedingt nötig: Mehr Chinakompetenz

Sprachkenntnisse sind nicht alles, aber ohne chinesische Sprache geht es nicht. Gelebte strategische Empathie setzt voraus, Chinesisch als die geschriebene und gesprochene Sprache, in der Chines:innen die Welt begreifen, ernst zu nehmen. Eine effektive Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber China setzt voraus, China besser zu kennen. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie und die Chinastrategie der Bundesregierung sollten daher einen Schwerpunkt auf Investitionen in den Ausbau der strategischen Übersetzungs- und Chinaanalysekompetenz in Deutschland legen. Dafür sollte die Bundesregierung eine Reihe von Schritten unternehmen. 


» Gelebte strategische Empathie setzt voraus, Chinesisch als die geschriebene und gesprochene Sprache, in der Chines:innen die Welt begreifen, ernst zu nehmen. «

— Marina Rudyak

Erstens sollten sowohl Bundesregierung als auch Bundestag Chinakompetenz im eigenen Haus aufbauen, idealerweise durch Schaffung neuer Stellen für strategische China-Analyst:innen sowie durch länderspezifische Trainings für Mitarbeiter:innen und Abgeordnete. Letztere könnten am Beispiel der Universität Oxford, deren China-Institute solche Trainings anbieten, in Kooperation mit den großen Universitätsinstituten für Chinawissenschaften in Deutschland erfolgen. 

Zweitens sollte eine engere Vernetzung der Politik mit der Chinaforschung über Berlin hinaus bundesweit forciert werden. Hier könnte die Bundesregierung dem Beispiel der Niederlande folgen. Das Land hat einen China Envoy“ eingerichtet, also eine Rolle, die den China-bezogenen Austausch zwischen Wissenschaft und Regierung koordiniert. Zudem wären Fellowship-Programme nach Vorbild der USA sinnvoll, in deren Rahmen Chinawissenschaftler:innen ein bis zwei Jahre in Bundesbehörden oder beim Bundestag arbeiten. 

Drittens sollte Deutschland gezielt in den Aufbau der künftigen strategischen Chinakompetenz investieren – über Studiengänge, die eine Sprach- mit einer Fachausbildung kombinieren sowie durch die gezielte Ausbildung von Chinesisch-Deutsch-Dolmetscher:innen. Hier sollte der Bund auch über eine eigene Bundesakademie nachdenken, über die neben China weitere strategisch wichtige Länder und Sprachen abgedeckt werden könnten. 


Marina Rudyak

Sinologin, Universität Heidelberg