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Um erfolgreich gegen Putin vorzugehen, muss sich der Westen über seinen strategischen Kern einig sein: Was steht im Krieg in der Ukraine auf dem Spiel und welche Eskalationsgefahr geht von Panzerlieferungen aus?

Im Kalten Krieg traf die USA häufig der Vorwurf, in 3.000 Meilen Entfernung wisse man nicht, wie das Bedrohungsgefühl in Europa wirklich sei. Heute führt Russland Krieg in Europa, aber trotz der geographischen Nähe sucht Berlin in 3.000 Meilen Entfernung die Antworten. Das ist strategisch unausweichlich, da ohne die Vereinigten Staaten alles Militärische nichts ist. Ob Berlin allerdings Washington richtig liest, kristallisiert sich gerade heraus. Der US-amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hat im Kanzleramt in der deutschen Besonnenheit“ (Scholz) zunächst nicht den realpolitischen Blick der NATO auf den Kern des strategisch Notwendigen wiedererkannt.

Kernpunkte:

  1. Berlins Entscheidung über Panzerlieferungen muss auf dem Kern der strategischen Interessen in der Ukraine basieren: Russland darf nicht an die NATO-Ostflanke vordringen und die Einheit des Westens sowie die Einigkeit über Putins Eskalationspotenzial sind strategisch absolut notwendig. 
  2. Der abschreckende Nuklearschirm wirkt. Moskau wird es nicht riskieren, die NATO nuklear oder konventionell anzugreifen.
  3. Russland muss den Krieg verlieren. Auch um Chinas Kriegswillen gegen Taiwan zu mindern. 

Den strategischen Kern im Blick behalten

Dieser strategische Kern hat drei Teile. Erstens: Wie lautet das vitale strategische Interesse Deutschlands, das im Krieg in der Ukraine auf dem Spiel steht? Mindestens die militärische Verhinderung der Einnahme des Landes, wodurch Russland direkt an der NATO-Ostflanke stünde und nach der gescheiterten Unterstützung der Ukraine durch die NATO weiter ausgreifen könnte. Hierüber haben sich die Staaten des Ramstein-Formats nie explizit verständigt.

Der Grund dafür liegt im zweiten Teil des strategischen Kerns: der westlichen Bedrohungswahrnehmung. Da ab dem 24. Februar 2022 zwingend gehandelt werden musste, begann man zu improvisieren. Einig nur darin, dass die Ukraine militärisch unterstützt werden musste. Die Einheit des Westens war und ist dabei strategisch von höchstem Gewicht. Deshalb hieß es in den letzten Monaten, zuletzt insbesondere seit November, man stimme sich eng ab. Das war ein Codewort dafür, dass in diesen Abstimmungen NATO-interne Differenzen über die Wahrnehmung Russlands verhandelt wurden. Partout wollte man den deutschen Widerstand gegen Panzerlieferungen nicht in die Öffentlichkeit durchdringen lassen, um Putin nicht zu stärken. Nicht die USA, sondern Deutschland hat der Allianz in dieser Phase den Takt vorgegeben. Washington war geduldig darin, den Alliierten über Monate nicht öffentlich zu exponieren. Schon im September nämlich war ungut durchgesickert, dass die Übereinstimmung in der Panzerfrage brüchig war. Die USA machen dies auch weiterhin nicht explizit öffentlich, das Vertrauen zwischen Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz würde zerreißen.


» Die Einheit des Westens war und ist strategisch von höchstem Gewicht. «

— Maximilian Terhalle

Und das führt zum dritten Teil des Kerns: die Eskalationseinschätzung. Die hat sich bei den Baltischen Staaten, Polen sowie Großbritannien schon länger dahingehend bewegt, dass Russland dieses Potential nicht habe. Amerika sieht dies ähnlich. Nicht anders war Lloyd Austin am letzten Mittwoch zu verstehen, als er sagte, bei seiner Weigerung, Abrams-Panzer zu schicken, gehe es gerade nicht um das Eskalationsrisiko. Auf gut Deutsch: Kampfpanzer eskalieren die Kriegssituation nicht. US-Verteidigungssekretär Colin Kahl machte daraus keinen öffentlichen Fingerzeig an Scholz, um den Verbündeten nicht bloßzustellen. Andere Verbündete sind aufgrund des Wissens um diese Einschätzung erkennbar ungehaltener geworden.

Berlins begründete und unbegründete Eskalationsängste

Worauf gründet dann die deutsche Angst vor welcher Art von Eskalation? Die Furcht vor einer nuklearen Bedrohung, so scheint es, haben die Scholz’ Telefonate mit Putin hinterlassen. So soll Putin gesagt haben, er werde möglicherweise Berlin und den Fliegerhorst Büchel taktisch nuklear bombardieren. Dabei wusste er natürlich, dass er mit der Nukleardrohung bei Scholz Angstbilder aus den 1970ern und 1980ern mobilisieren konnte. Aber warum ließ der deutsche Bundeskanzler sich weismachen, Putin könne diese Drohung aussprechen, ohne das massive Abschreckungspotential der NATO in seine Kalkulationen einbeziehen zu müssen? Warum ließ sich der Kanzler hier einzeln aus dem nuklearen Schutz der USA herauspicken? Und als Putin dann im weiteren, für ihn nicht erfolgreichen Kriegsverlauf im Frühherbst 2022 nukleare Drohungen vorbrachte, konnte der Kanzler doch sehen, dass Amerikas unmissverständlich formulierten Gegendrohungen ihre Wirkung nicht verfehlten. Gründet die deutsche Zurückhaltung dann auf dem konventionellen russischen Eskalationspotential? Die russischen Streitkräfte haben circa 100.000 Soldatinnen und Soldaten verloren. Deshalb wird Putin dafür sorgen, dass die Aushebung neuer Kräfte vonstattengeht, die Produktion der Kriegswirtschaft anläuft und die zermürbende Kriegstaktik gegen die ukrainische Zivilbevölkerung fortgesetzt wird. Aber genügen diese legitimen Bedenken, Putin das Eskalationspotential zuzugestehen, die NATO direkt in den Krieg zu involvieren?

Eine weitere Furcht in Berlin: Man verliere womöglich die Kontrolle über die Ukraine, sodass die Panzer bei der Rückeroberung der Krim eingesetzt werden könnten. Zunächst hat die Bundesregierung die Krim-Besetzung seit 2014 als völkerrechtswidrig betrachtet, weshalb deren Eroberung durch die Ukraine legitim wäre. Auch Washington sieht dies aus Eskalationsperspektive heute so. Entscheidend ist doch aber, dass Selenski sehr genau weiß: Ein Vorgreifen auf russisches Territorium würde das Ende der US-Unterstützung bedeuten. Das hat Washington in ihrer in diesen Fragen robusten Form Kiew deutlich gemacht. Daran kann auch das Kanzleramt keine begründeten Zweifel hegen.


» Entscheidend ist, dass Selenski sehr genau weiß: Ein Vorgreifen auf russisches Territorium würde das Ende der US-Unterstützung bedeuten. «

— Maximilian Terhalle

Schließlich ein signifikanter Punkt, der in Berlin aber nicht gesehen wird. James Mattis, ehemaliger US-Verteidigungsminister, sagte 2017 bereits, die USA könne zwei Großkriege simultan weder abschrecken noch führen. Sollte sich also China 2023 oder 2024 entschließen, Taiwan anzugreifen, wäre das US-amerikanische Rückgrat für Europa im Krieg in der Ukraine nicht mehr vorhanden. Strategisch wäre es deshalb ein entscheidendes Zeichen an China, dass Russland seinen Krieg verliert. Das minderte den Kriegswillen des chinesischen Präsidenten Xi Jingpings und stärkte umgekehrt Europas Sicherheit. Wenn dies das vitale strategische Interesse Deutschlands in diesem Krieg ist, dann muss Deutschland nach Ramstein das strategisch Notwendige tun. Dies wäre das richtige Zeichen der Zeitenwende“ (Rolf Mützenich) – realpolitisch gedacht.


Maximilian Terhalle

Gastprofessor für Strategie, London School of Economics (LSE IDEAS); Senior Fellow, Institut für Sicherheitspolitik Kiel (ISPK).

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