Artikel von Johannes Varwick

Für eine offene und stabile internationale Ordnung: Drei Impulse für die Nationale Sicherheitsstrategie

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Photo: Norbert Braun /​Unsplash

In Big Picture: Prioritäten für die Nationale Sicherheitsstrategie
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Klar definierte nationale Interessen müssen im Vordergrund der Nationalen Sicherheitsstrategie stehen. Nur so kann die Strategie einen Kompass bereitstellen, an dem sich sowohl deutsche Sicherheitsakteure als auch internationale Partner verlässlich orientieren können.

Kernpunkte:

  1. Die Nationale Sicherheitsstrategie muss deutsche Interessen sowohl inhaltlich als auch zeitlich priorisieren. 
  2. Der Einsatz von militärischen Mittel ist mit politischen Zielen zu begründen.
  3. Ohne die Einbeziehung anderer Perspektiven verschärft sich das Sicherheitsdilemma.
  4. Die deutsche Sicherheitspolitik braucht einen ganzheitlichen Ansatz. 

In Deutschland gibt es zwar zahlreiche sicherheitspolitische Grundlagendokumente, wie beispielsweise das Weißbuch und andere diverse Papiere aus den jeweiligen Ressorts, aber bisher noch keine übergreifende nationale Sicherheitsstrategie, die alle Ressorts unter klarer Aufgabenzuteilung und ‑abgrenzung sinnvoll und mit weitem Blick nach vorn ausrichtet – und damit auch eine allgemeine Messlatte zur selbstkritischen Würdigung der in der Praxis erzielten Ergebnisse bereitstellt. Zwar kann eine solche nationale Sicherheitsstrategie – deren Entwicklung im Koalitionsvertrag vereinbart ist – konkreten Entscheidungen in einer Krisenlage auch nur begrenzt vorgreifen. Aber im besten Falle bündelt sie Kräfte zielorientiert und schafft damit auch ein erforderliches Maß an Handlungs- und Erwartungssicherheit für alle beteiligten Akteure. 

Damit dies gelingt, sind durchdachte Überlegungen zum Verhältnis von Zielen, Werten und Interessen in der deutschen Außenpolitik in einem solchen Dokument unerlässlich. Die Wertediskussion ist diffus, auch wenn niemand bestreiten will, dass Menschenrechte, Demokratie und Freiheit wichtige Kategorien sind. Das deutsche Interesse wiederum lässt sich vereinfacht wie folgt formulieren: Deutschland ist in besonderem Maße auf eine offene und kooperative internationale Ordnung angewiesen, in der sowohl ein freier Zugang zu Ressourcen sichergestellt als auch Handelswege offen sind und keine Zonen der Anarchie geduldet werden können. Damit verbunden liegt es im deutschen Interesse, dass eine strategische Konfrontation des Westens mit den aufsteigenden Mächten China und Indien (und möglicherweise auch mit Brasilien, Südafrika und Indonesien) und ein Rückfall in alte Konfliktstrukturen im Osten Europas verhindert werden. Die aktuelle geopolitische Lage mit Blick sowohl auf Russland als auch China zeigt, dass deutsche Interessen in diesem Sinne derzeit massiv bedroht sind. 

Nationale Interessen klar definieren und priorisieren

Für die Debatte rund um die Entwicklung einer nationalen Sicherheitsstrategie lassen sich daraus drei zentrale Impulse ableiten.

Erstens besteht die wesentliche Funktion von Interessen darin, als Referenzkategorie für die sicherheitspolitischen Entscheidungen eines Landes zu wirken. Ein strategisch handelnder Staat muss seine Interessen sowohl inhaltlich als auch zeitlich priorisieren. Nur dadurch werden Handlungsoptionen, aus denen sich wiederum Handlungsentscheidungen ableiten lassen, erst sichtbar. Die Besinnung auf klar definierte nationale Interessen beugt zudem der Gefahr vor, dass staatliche Kräfte und Möglichkeiten überdehnt werden. Und sie wirkt der mit einer (zu) starken Werteorientierung und moralisierenden Rhetorik mitunter einhergehenden Neigung zu politischem Kreuzfahrertum entgegen. 

Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von einer offenen und stabilen internationalen Ordnung, zu deren Erhalt es aktiv – und aktiver – beitragen sollte. Der Gedanke, dass Deutschland eine Mitverantwortung für eine solche Ordnung hat, verlangt eine nüchterne Bewertung in der gesamten Breite, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der strategischen Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik. Militärische Mittel sind dabei nicht der entscheidende Faktor – vielmehr bedarf es eines permanenten politischen Engagements für eine offene Ordnung. Dieses Engagement sollte die Bundesregierung von einem normativ und strategisch nüchternen Standpunkt aus vorantreiben. Als Exportnation sind Deutschlands Interessen global – und aus der Struktur dieser internationalen Einbettung resultiert wiederum das vitale Interesse, zu verhindern, dass ein Zerfall in Subsysteme an die Stelle einer genuin globalen Ordnung tritt. Das bedeutet auch, die Front Demokratie versus Autokratie“ in der nationalen Sicherheitsstrategie nicht überzubetonen. 

Hier gibt es erhebliches Konfliktpotential mit Deutschlands wichtigstem globalem Partner, den USA. Nachdem die amerikanischen Anti-Terror-Kriege mit dem Ziel der Demokratisierung und des regime change“ in Afghanistan und im Irak in den vergangenen Jahrzehnten gescheitert sind, sollte die von Präsident Joe Biden formulierte globale Demokratisierungsstrategie mit Skepsis betrachtet werden. Das bedeutet nicht, über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen und Wirtschaftsinteressen absolut zu setzen. Deutschland sollte jedoch anstreben, andere Länder nach Maßgabe ihrer jeweiligen historischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen einzuschätzen und zu verstehen – wozu es außen- und sicherheitspolitisches Einfühlungsvermögen braucht. Menschenrechte als Maß aller Dinge zu definieren erschwert eine realistische Außenpolitik, die der Vielfalt der Staats- und Regierungssysteme und den Widersprüchen der Weltpolitik Rechnung trägt. 


» Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von einer offenen und stabilen internationalen Ordnung, zu deren Erhalt es aktiv – und aktiver – beitragen sollte. «

— Johannes Varwick

Militärische Mittel mit politischen Zielen begründen

Gleichzeitig sollten sich politisch Verantwortliche bei der Formulierung einer nationalen Sicherheitsstrategie – und frei nach Carl von Clausewitz – verdeutlichen, dass vor der Entscheidung, das Militär als Mittel der Politik“ einzusetzen, die Frage zu beantworten ist, welcher politische Zweck mit welchen militärischen Mitteln erreicht werden soll. Bei dieser Zweck- und Zieldefinition sind Chancen und Risiken des eigenen Handelns nüchtern und realistisch zu bewerten. Zu fragen ist also stets, ob und in welcher ausbalancierten Kräftekonstellation das angestrebte politische Ziel mit dem beabsichtigten militärischen Einsatz erreichbar ist. Fehlt eine solche Abwägung, dann besteht das Risiko ungewollter Nebenwirkungen und – das zeigen die Interventionen der vergangenen Jahrzehnte – sogar einer unerwünschten Eskalation oder bestenfalls eines Stillstandes ohne erkennbare Fortschritte. 

Diese Erkenntnis wird auch zu der politisch heiklen Aufgabe führen, zu erklären, warum die Politik dem öffentlichen Wunsch, aus moralischen Gründen etwas zu tun“, um das Leid in einem Konflikt zu lindern, nicht immer zu folgen bereit ist. Zugespitzt handelt es sich hier also um ein Dilemma: dem – kurzfristig – vermittelten Eindruck von Ohnmacht oder Gleichgültigkeit steht eine – langfristige – Sicherung von Handlungsfähigkeit gegenüber. Antworten auf die strategische Frage, in welchen Konfliktszenarien und mit welchen Mitteln sich deutsche Sicherheitspolitik bewegen können muss, sollten diesen Erwägungen folgen. Strategisches Handeln sollte sich an der Leitlinie orientieren, dass einerseits Fähigkeiten in einem breiten Spektrum unter Berücksichtigung integrierter Verbünde (transatlantisch wie europäisch) notwendig sind, andererseits aber die spezielle Ausrichtung der Kräfte nicht zuletzt aus Ressourcengründen einer klaren, konsequenten Priorisierung zu folgen hat. Denn es ist letztlich unrealistisch und damit kontraproduktiv, alles, was wünschenswert wäre, auch verwirklichen zu wollen. 

Perspektiven anderer systematisch miteinbeziehen

Ein zweiter wichtiger Aspekt, der die Politik sowohl bei der Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie als auch das sicherheitspolitische Handeln in der Praxis leiten sollte, ist das Wissen um unterschiedliche Wahrnehmungen. Der Erfolg eines Strategiedokuments wird auch davon abhängen, ob es dazu beiträgt, die Perspektiven der anderen“ systematisch in das strategische Handeln Deutschlands einzubeziehen – egal, ob diese Perspektiven nachvollziehbar sind oder nicht. Denn: Orientiert sich Sicherheitspolitik nur an den eigenen Zielen, Interessen und Deutungen der Realität, verschärft sich das Sicherheitsdilemma“, was zwangsläufig in eine ungewollte Spirale der Unsicherheit für alle führt. Auch wenn niemand der deutschen Sicherheitspolitik aggressive oder expansionistische Ziele unterstellen kann, sind Machtpotentiale natürlich immer auch in Verbindung zu den formulierten Intentionen zu sehen – und diese können sich, zumindest potentiell und in der Wahrnehmung anderer Staaten, rasch ändern. Daraus folgt, dass die Bundesregierung den Parametern Verlässlichkeit, Transparenz, Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle in der Strategie ein hoher Stellenwert einräumen sollte. Zugleich erfordert dies ein – in Deutschland wenig ausgeprägtes – stärkeres Denken in Gleichgewichtskategorien. Um ein Bespiel zu nennen: Ein solches Denken würde akzeptieren, dass Russland in der Ukraine privilegierte Interessen hat (die es mit dem derzeitigen Angriffskrieg gleichwohl in vollkommen inakzeptabler Weise meint, durchzusetzen zu können) – und hätte die Ausdehnung des westlichen Einflusses auf stabilitätsförderndere Art gestaltet.


» Der Erfolg eines Strategiedokuments wird auch davon abhängen, ob es dazu beiträgt, die Perspektiven „der anderen“ systematisch in das strategische Handeln Deutschlands einzubeziehen – egal, ob diese Perspektiven nachvollziehbar sind oder nicht. «

— Johannes Varwick

Einen ganzheitlichen Ansatz strukturell verankern

Diese beiden Überlegungen politisch umzusetzen verlangt, drittens, eine besser vernetzte und ausgewogenere Entscheidungskompetenz, an der es in Deutschland derzeit mangelt. Dabei geht es weniger um die Fachexpertise in den verschiedenen Ressorts und vielmehr um deren Verknüpfung im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes. Es fehlt in der deutschen Sicherheitspolitik schlichtweg an einem geeigneten Instrumentarium, um – durchaus im Einklang mit dem Ressortprinzip – Entscheidungen im übergreifenden Sinne vorzubereiten, ihre Umsetzung kritisch-konstruktiv zu begleiten und notfalls gezielt nachzusteuern. Zwar sieht das deutsche Regierungssystem im Moment keinen Nationalen Sicherheitsrat oder Nationalen Sicherheitsberater analog zum US-amerikanischen Präsidialmodell vor. Aber der bestehende Bundessicherheitsrat, der in seiner jetzigen Form nicht mehr als einem Kabinettsausschuss ohne eigene fachliche Ressourcen entspricht und sich in der Praxis vorwiegend auf Rüstungsexportfragen beschränkt, kann die Aufgabe eines zentralen Impulsgebers deutscher Sicherheitspolitik in keiner Weise erfüllen. 

Alternativ haben sich vielfältige Konstrukte etabliert, die vor allem auf der Arbeitsebene eine Plattform für den interministeriellen Informationsaustausch und eine übergreifende Meinungsbildung schaffen. Das geschieht in der Regel jedoch anlassbezogen – und damit ohne bewährte und etablierte Verfahren. Der Austausch folgt ohne übergreifende Instanz einem mehr oder weniger lockeren, auf Konsens beruhenden Prinzip, das in Krisen oder komplexen Lagen infolge nicht sehr wirksam ist, wenn die Ressortinteressen auseinandergehen. Vernetzte Sicherheitspolitik verlangt heute aber sehr viel mehr Abstimmung im Sinne eines modernen Controllingsystems“ – also unter anderem die Verfügbarkeit eines Kompetenzzentrums, das wichtige Informationen ressortübergreifend zu einer allgemeinen Lageanalyse und Früherkennung zusammenführt und diese für alle als zentrale Quelle bereithält sowie einen stetigen Abgleich der formulierten Ziele mit den erreichten Ergebnissen („lessons learned“). Um dabei die nötige Objektivität und Selbstkritik zu erzielen, sollte ein solcher Abgleich betont ressortunabhängig erfolgen. In der gegenwärtigen deutschen Sicherheitspolitik ist gewiss das eine oder andere davon wiederzufinden – aber strukturell ist der Gedanke eines ganzheitlichen Ansatzes noch nicht oder allenfalls rudimentär etabliert. Solange das aber so bleibt, besteht die Gefahr, dass die politischen Ergebnisse dem hohen Kräfteeinsatz letztlich nicht gerecht werden.


» Vernetzte Sicherheitspolitik verlangt heute aber sehr viel mehr Abstimmung im Sinne eines modernen „Controllingsystems“. «

— Johannes Varwick

Anschlussfähigkeit – aber mit Gestaltungswillen

Strategien – also die systematische Reflexion über den Zusammenhang von Zielen und Mitteln – sind für eine sicherheitspolitisch erwachsene Nation unerlässlich. Dabei gilt es auch, die Anschlussfähigkeit einer deutschen Sicherheitsstrategie an entsprechende EU-Dokumente sicherzustellen. Zugleich sollte Deutschland als Zentralmacht in Europa eigene Akzente setzen, die der deutschen strategischen Kultur entsprechen – beziehungsweise diese neu bestimmen. Denn auf absehbare Zeit werden Staaten diejenigen Akteure bleiben, die Sicherheitspolitik formulieren und umsetzen – trotz aller Bedeutung von multilateralen Arrangements jedweder Art.

Bei der Nationalen Sicherheitsstrategie geht es nicht um eine verzichtbare Fleißaufgabe, nur um der Pflicht zur Transparenz zu genügen. Im Kern muss die Strategie vielmehr drei unverzichtbare Funktionen erfüllen: Zunächst veranlasst sie alle Ressorts zu einer gemeinsamen Meinungsbildung in den großen Zukunftsfragen deutscher Sicherheitspolitik – wobei der Prozess der Strategiefindung und des damit einhergehenden, meist harten Ringens um die richtige“ Lösung im Sinne der Vernetzung mitunter noch ertragreicher sind als das schriftliche Ergebnis selbst. Darüber hinaus zwingt eine solche Strategie zu Weitblick und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf das, was in der Sicherheitsvorsorge als das effektivste und erstrebenswerteste Mittel gilt: Präventives Handeln statt reaktiver Schadensbegrenzung. Und im Ergebnis stellt sie einen Kompass bereit, an dem sich alle Akteure orientieren können und der damit ein Stück Verlässlichkeit – auch für Deutschlands Nachbarn und Partner – bietet. Das ersetzt zwar noch keine kluge Politik (und kluge Politikerinnen und Politiker), kann aber durchaus dazu beitragen, die Voraussetzungen für effektive Sicherheitspolitik und damit deren Erfolg zu verbessern.


Johannes Varwick

Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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