Strategien für eine neue Zeit
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Die Nationale Sicherheitsstrategie muss klar an Werte gebunden sein und gleichzeitig zielgerichtet politisches Handeln anleiten. Dafür braucht es mehr Zusammenarbeit über unterschiedliche Politikfelder hinweg – und mehr integriertes Denken.
Kernpunkte:
- Strategien müssen wertegebunden sein und zielgerichtet politisches Handeln anleiten können.
- Das Konzept der menschlichen Sicherheit ist zentral für die Nationale Sicherheitsstrategie.
- Die aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen verlangen einen Wechsel zu kooperativen Ansätzen von Politikgestaltung.
Gegenwärtig hört man vielerorts in Deutschland Menschen über sicherheitspolitische Fragen diskutieren. Am Arbeitsplatz, in der Schule, auf dem Sportplatz, im Bus – überall wird über Themen gesprochen, die noch vor wenigen Monaten vermeintlich einem Kreis von Expert:innen vorbehalten waren: Waffenlieferungen, Sanktionen, Raketenabwehr, Sondervermögen für die Bundeswehr. Diese Themen haben eines gemeinsam: Sie sind Bestandteil eines Sets an außenpolitischen Instrumenten, mit denen Deutschland auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert.
Was jedoch viel seltener diskutiert wird sind grundsätzlichere Fragen hinsichtlich der politischen Interessen, Werte und mittel- und langfristigen strategischen Ziele, die den Einsatz dieser Instrumente anleiten sollten. Diese strategische Dimension zu klären ist die Aufgabe einer nationalen Sicherheitsstrategie. Die Bundesregierung hat sich – wie in ihrem Koalitionsvertrag bereits angekündigt – auf den Weg gemacht, eine solche Strategie zu entwerfen. Damit ergreift sie die Chance, die von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte „Zeitenwende“ systematisch und umfassend auszugestalten.
Nutzen und Grenzen von Strategiebildung
Sicherheitsstrategien sind kein Allheilmittel für die großen Herausforderungen unserer Zeit. Ihre Ausdehnung auf unterschiedliche Politikfelder außerhalb der Verteidigungspolitik ist umstritten, genauso wie ihr tatsächlicher Einfluss auf politische Entscheidungen. Sollten sie daher – im Sinne der klassischen militärstrategischen Formulierung von Liddell Hart – auf die „Kunst der Verteilung und Anwendung militärischer Mittel, um Ziele der Politik zu erreichen“ reduziert werden? Oder schränken langfristige Strategien gar die notwendige Flexibilität außenpolitischen Handelns in einer Zeit rapiden Wandels unnötig ein?
Sicherheitspolitische Strategien müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie solche Vorbehalte überwinden und sowohl wertegebunden als auch zielgerichtet politisches Handeln anleiten können. Denn: Strategien sind in diesen neuen Zeiten der Ungewissheit und Unsicherheit notwendiger denn je, um Orientierung zu geben. Strategiebildung ist gerade dann zentral, wenn wir uns – wie heute – mit komplexen, verflochtenen und grenzüberschreitenden Krisen und Konflikten konfrontiert sehen. Strategien können hier auch als normative Wegweiser neue Pfade aufzeigen, um mit diesen großen gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen. Strategiebildung also ist der Versuch, kohärente, langfristige Antworten auf zwei einfache Fragen zu finden: Wo wollen wir hin? Und wie kommen wir dort an?
Viele europäische Staaten – darunter Litauen (2002), Polen (2003), Finnland (2004), die Slowakei (2005), Frankreich (2008), Großbritannien (2008), Spanien (2011) und Ungarn (2011) – haben im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nationale Sicherheitsstrategien erarbeitet. Alle diese Dokumente erfüllen zwei grundlegende Funktionen. Zum einen entwickeln sie eine übergeordnete politische Erzählung, die unterschiedliche Politikziele schlüssig miteinander in Beziehung setzt und normativ untermauert. Strategien sind damit Elemente der strategischen Kommunikation einer Regierung – und ein wesentlicher Aspekt einer guten Strategie ist die Überzeugungskraft des darin entwickelten Narrativs. Darüber hinaus setzen sie ganz funktional strategische Ziele mit vorhandenen Ressourcen und Instrumenten in Beziehung, damit definierte Ziele auch umgesetzt werden können.
Was muss die Nationale Sicherheitsstrategie leisten?
Hinzu kommt heute noch eine weitere Anforderung: Strategien müssen gravierende sicherheitspolitische Herausforderungen über unterschiedliche Politikfelder hinweg zusammenbringen – und zwar vermehrt auf verschiedenen Ebenen der politischen Entscheidungsfindung. Wir leben in einer Welt, die zunehmend von Krieg, vertrackten Problemen und menschengemachten Katastrophen bestimmt wird. Auch wenn wir nach der russischen Invasion in der Ukraine alle in einer neuen Zeit aufgewacht sind: In Kansas sind wir schon lange nicht mehr.
Die Außenministerin hat ihrer Rede zur Nationalen Sicherheitsstrategie daher zurecht ein umfassendes und übergreifendes Schutzversprechen zugrunde gelegt – den Schutz des Lebens, der Freiheit des Lebens und unserer Lebensgrundlagen. Angelehnt an das Konzept der menschlichen Sicherheit ist dieses umfassende Konzept ein voraussetzungsreiches Schutzversprechen des Staats an seine Bürger:innen. Die Nationale Sicherheitsstrategie muss demonstrieren, wie dieses Versprechen angesichts der oben skizzierten Herausforderungen umgesetzt werden kann.
» Die Bundesregierung sollte der Versuchung widerstehen, die strategischen Fragen der Zukunft auf eine Reaktion auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu verkürzen. «
Es ist ein guter Zeitpunkt für dieses Projekt. Momente, in denen radikale politische Gestaltung möglich ist, sind rar. In diesen Monaten ist das öffentliche Mandat stark und die Legitimation zur aktiven Politikgestaltung hoch. Auch in der Vergangenheit war deutsche Politik angesichts großer Herausforderungen immer wieder gestaltungsfähig. Das Lastenausgleichsgesetz zur Abfederung der materiellen Folgen von Krieg und Vertreibung von 1952 und das Energiesicherungsgesetz zum Umgang mit der Energiekrise von 1975 sind nur zwei Beispiele dafür. Zuletzt hat die Pandemie gezeigt, dass Staaten auch heute noch aktiv politisch gestalten können, anstatt nur zu moderieren.
Es gibt also keinen systematischen Grund, warum die in der Pandemie demonstrierte politische Handlungsfähigkeit nicht auf friedens- und sicherheitspolitische Krisen übertragen werden kann. Denn: Krisen können etablierte Problemwahrnehmungen, Routinen und Entscheidungswege ändern. Wir stehen heute an einem solchen Scheideweg, an dem bereits eingeschlagene Pfade weiter ausgetreten oder aber neue Pfade – zum Guten wie zum Schlechten – beschritten werden können. In diesen Zeiten der Ungewissheit wird aktives politisches Handeln zentral.
Eine nationale Sicherheitsstrategie kann den dringend notwendigen Diskursraum für die politische Gestaltung der zukünftigen Friedens- und Sicherheitspolitik Deutschlands öffnen. Die Bundesregierung sollte dabei der Versuchung widerstehen, die strategischen Fragen der Zukunft auf eine Reaktion auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu verkürzen.
Von einer umfassenden Strategie zu einer integrierten Sicherheitspolitik
Der zentrale Bezugspunkt der Strategie ist ihr umfassendes Schutzversprechen. Um dieses umzusetzen, muss die Nationale Sicherheitsstrategie über gängige Bekenntnisse zu einer „vernetzten“ Sicherheitspolitik hinausgehen. Während frühere Weißbücher der Bundesregierung primär verteidigungspolitische Grundlagendokumente waren, wird die neue Strategie aktiv zusätzliche Politikfelder und weitere politische und gesellschaftliche Akteure einbeziehen müssen. Und diese Listen sind lang, wie bereits die Entwicklung der umfassenden „Global Strategy“ und des neuen „Strategic Compass“ der Europäischen Union gezeigt haben.
Sicherheitspolitik muss zunehmend auf Herausforderungen reagieren, die die bestehenden Grenzen zwischen Staaten, Verwaltungsebenen und politischen Organisationseinheiten überschreiten. Die Public Policy-Forschung weist schon lange darauf hin, dass demokratische Systeme aber in der Regel darauf ausgerichtet sind, einzelne Problemelemente innerhalb kompartmentalisierter, also voneinander abgegrenzter, Verfahren zu bearbeiten, anstatt Probleme in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Weil sicherheitspolitische Herausforderungen heute so stark miteinander verflochten sind, braucht es jedoch einen Wechsel von traditionellen hierarchischen Formen der Politikgestaltung hin zu kooperativen Ansätzen. Eine stärkere horizontale Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Akteuren wird zwingend notwendig sein, um die Probleme unserer Zeit verstehen und bewältigen zu können.
» Die Nationale Sicherheitsstrategie wird auch daran gemessen werden, ob sie Orientierung für eine wertegeleitete Außen- und Sicherheitspolitik bietet, die die akuten Fragen der Landes- und Bündnisverteidigung mit langfristiger Klimaaußenpolitik, Krisenprävention und Friedensförderung auf einen Nenner bringt. «
Eine zentrale Frage für die Nationale Sicherheitsstrategie wird daher sein, wie bereits in der Strategie selbst ein Weg dahin angelegt werden kann. Unterschiedliche Vorschläge, wie Koordination verbessert und stärkere Anreizstrukturen für gemeinsame Entscheidungsverfahren in der Sicherheitspolitik geschaffen werden können, liegen vor. Hier wird es darauf ankommen, den „Schatten der Hierarchie“ in kooperativen Entscheidungsverfahren so geschickt einzusetzen, dass eine umfassende Sicherheitsstrategie trotz begrenzter Ressourcen und administrativer Widerstände zu einer integrierten Sicherheitspolitik führt.
Sicherheitspolitik mit Friedensförderung verbinden
Nicht zuletzt wird die Sicherheitsstrategie die Frage beantworten müssen, wie deutsche Sicherheitsinteressen mit einer langfristigen Politik der Friedensförderung verbunden werden können. In ihren friedenspolitischen Leitlinien bekräftigt die Bundesregierung die Förderung des Friedens in der Welt als ein zentrales deutsches Staatsziel. Hinter diese Formulierung und den damit verbundenen Anspruch kann die Nationale Sicherheitsstrategie nicht zurückfallen. Sie wird auch daran gemessen werden, ob sie Orientierung für eine wertegeleitete Außen- und Sicherheitspolitik bietet, die die akuten Fragen der Landes- und Bündnisverteidigung mit langfristiger Klimaaußenpolitik, Krisenprävention und Friedensförderung auf einen Nenner bringt.
Dafür wird zukünftig mehr wissenschaftliche Expertise zu den vielfältigen Zusammenhängen zwischen den schwer zu lösenden Krisen und Konflikten unserer Zeit nötig sein. Die globalen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs zeigen, dass wir insbesondere besser darin werden müssen, friedens- und sicherheitspolitische Expertisen systematisch zusammenzuführen. Die Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung sind dabei für die Entwicklung einer integrierten Sicherheitspolitik unverzichtbar, denn sie ermöglichen ein umfassenderes Verständnis für die Herausforderungen unserer Zeit. Darunter fallen neben traditionellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen eben auch Herausforderungen für menschliche Sicherheit, Fragen zu den Bedingungen für die friedliche Verfasstheit von Gesellschaften oder die Entwicklung globaler Unsicherheitsdynamiken angesichts des fortschreitenden Klimawandels. Diese Art von integriertem Denken wird für eine neue Zeit unverzichtbar sein.
Ursula Schröder
Wissenschaftliche Direktorin, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg
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