Artikel von Michelangelo Freyrie

Wie geht ein besseres Zusammenspiel der europäischen Verteidigungsanstrengungen?

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(Emmanuel Dunand/Pool/EPA-EFE/Shutterstock)

In Ertüchtigung daheim: Verteidigung zukunftsfähig gestalten
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Wenn es um Verteidigungs- und Rüstungspolitik geht, ist Deutschland auf dem EU-Auge blind. Warum Berlin jetzt das industriepolitische Potential der GSVP ausschöpfen sollte.

Die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz Ende August in Prag wurde von politischen Beobachter:innen im Ausland als ein wichtiges politisches Signal für die Europäische Union begrüßt. Die angesprochenen institutionellen Reformen innerhalb der EU, von Mehrheitsentscheidungen im Bereich Außenpolitik bis hin zu einer Konkretisierung von Macrons Vorschlag einer europäischen politischen Gemeinschaft“, zeigen Deutschlands langsame Entwicklung hin zu einer Führungsmacht‘ innerhalb der Union. Man kann zumindest davon ausgehen, dass die aktuelle Bundesregierung sich über Deutschlands Gewicht in der EU im Klaren ist: Ohne Berlin lässt sich in der EU politisch kaum etwas ändern. 

Deswegen ist es so enttäuschend, dass Deutschland eine eher bescheidene Rolle in der Prägung der europäischen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) spielt. Die Europäische Union (EU) wäre als wirtschaftliches und politisches Projekt besonders geeignet, industrie- und forschungspolitische Initiativen im Verteidigungsbereich zu betreiben. Die EU besitzt Wirtschaftsinstrumente, die viel umfassender als die der NATO sind. Anders als in Frankreich oder Italien spielt die EU-Verteidigungsinitiative für die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) allerdings eine geringere Rolle in der deutschen Debatte.


» Eine wirtschaftlich nachhaltige Anstrengung im Verteidigungsbereich und die Einhaltung von NATO-Vorgaben kann nur im europäischen Kontext gedacht werden. «

— Michelangelo Freyrie

Die Prager Rede des Bundeskanzlers ist keine Ausnahme: Es gab zwar ein Bekenntnis zur neuen EU-Eingreiftruppe, aber strukturelle Vorschläge und Projekte im EU-Rahmen blieben aus. Auch die mögliche und hilfreiche Arbeitsaufteilung zwischen NATO (militärische Koordination) und EU (industrielle und technologische Planung) findet zu wenig Beachtung. Das in der Grundsatzrede vorgeschlagene Projekt einer europäischen Luftverteidigung, zum Beispiel, stellte sich in den darauffolgenden Wochen als das NATO-Projekt European Sky Shield“ heraus. Wenn man bedenkt, dass es im PESCO-Rahmen aktuell mehrere Forschungsprojekte zum Thema gibt (zum Beispiel das Projekt Twister zur Abwehr von Hyperschallwaffen), dann wird klar, dass aus deutscher Perspektive die GSVP die Beschaffungswünsche der Mitgliedstaaten nicht erfüllen kann. 

Unter diesem Gesichtspunkt wäre es deswegen noch wichtiger, dass Berlin mit der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie auch systematische Vorschläge zur Stärkung der GSVP anbieten würde. Das Thema ist für eine seriöse Konzeption der Zeitenwende unumgänglich: Eine wirtschaftlich nachhaltige Anstrengung im Verteidigungsbereich und die Einhaltung von NATO-Vorgaben kann nur im europäischen Kontext gedacht werden. 

Europäisches Beschaffungswesen

Und es kann wirklich nur von einer ersten Anstrengung“ die Rede sein: Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass sich Deutschland in absehbarer Zeit auch für die Möglichkeit eines Konfliktes höherer Intensität wappnen muss. Die globale Lage ist sowohl von Instabilität im Mittelmeerraum als auch von einem konventionellen Landeskrieg in Europa geprägt. Europa kann sich eine Entweder-Oder‘ Mentalität nicht mehr leisten. Außerdem werden steigende Ausgaben nationale Haushalte weiter unter Druck setzen. Europäische Streitkräfte müssen in der Lage sein, Stabilisierungseinsätze außerhalb des Kontinents durchzuführen und sich zur selben Zeit die Landes- und Bündnisverteidigung leisten. Dabei müssen staatliche Ressourcen auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der globalen Instabilität abfedern. In den nächsten Jahren wird die Priorität natürlich auf der Landesverteidigung liegen – die anderen Problemkomplexe werden allerdings nicht verschwinden. Es ist absehbar, dass europäische Armeen Formen des Krisenmanagements fortführen werden. 

Das europäische Beschaffungswesen ist für diese doppelte Herausforderung unvorbereitet. Abnutzungsschlachten spielen schon lange keine Rolle im europäischen Denken mehr. Man dachte, schnelle und komplexe Operationen könnten konventionelle Kriege nach wenigen Wochen beenden. Die Ukraine zeigt jedoch, dass Auseinandersetzungen zwischen gleichwertigen Armeen auch zu hohen Materialverlusten führen können. Wegen großzügigen Hilfspaketen für die Ukraine riskiert Europa Engpässe bei Rad- und Kettenfahrzeugen sowie Fliegerfäusten. Sogar an Artilleriemunition könnte es bald mangeln. Ähnliche Probleme würden sich auch in einem direkten Krieg mit Russland ergeben. Das ist vielleicht bei der kläglichen Materiallage der Bundeswehr kaum überraschend, aber sogar Großbritannien und Frankreich mussten 2011 ihre Luftkampagne gegen Muammar Gaddafis Libyen wegen Munitionsmangel drosseln. 

Zeitenwende“ heißt deswegen auch, dass sich Deutschland auf einen industriellen Krieg vorbereiten muss. Europa muss in der Lage sein, sowohl höhere Produktionsraten zu verkraften, als auch die Fähigkeit ausbauen, bei unterbrochenen Lieferketten kritische Technologien und Waffensysteme beschaffen zu können. 

Resilienz der europäischen Rüstungsindustrie

Konkret heißt das sowohl die Erweiterung der europäischen Industriebasis voranzutreiben als auch Abschied von einer veralteten Politik zu nehmen. Politisch wurde die GSVP jahrelang fast exklusiv als Sparmaßnahme konzeptualisiert. Eine europäische und transnationale Verteidigungsindustrie, so die Idee, würde zu optimierten Lieferketten führen und die Einstellung von überflüssigen Produktionslinien für nationale Waffensysteme ermöglichen. Das ist nachvollziehbar: Europa braucht keineswegs 17 unterschiedliche Panzermodelle. 

Jedoch müssen auch die Resilienz der europäischen Rüstungstechnologie und die rüstungsindustrielle Basis gesichert werden. Gerade jetzt zeigen sich die Nachteile eines Verteidigungssektors, der hauptsächlich auf Wettbewerb und Markt setzt. Zum Beispiel: Marktdruck macht es unmöglich für Firmen, Produktionsstätte einfach leer zu lassen. Diese wurden in den letzten Jahren abgebaut, mit der Folge, dass man eine höhere Produktionsleistung nur nach dem Bau neuer Werke und Einkauf neuer Maschinen erreichen könnte. Das dauert in der Regel Jahre. Ohne solche unprofitablen Redundanzen gibt es keine surge capacity – also die Möglichkeit, für kurze Zeit die Produktionsvolumen extrem zu steigern.


» Gerade jetzt zeigen sich die Nachteile eines Verteidigungssektors, der hauptsächlich auf Wettbewerb und Markt setzt. «

— Michelangelo Freyrie

Die Antwort auf diese Problemlage heißt heute leider zu oft Protektionismus. Engpässe und die Priorisierung nationaler Kunden bei der Herstellung von multinationalen Waffensystemen (beispielsweise bei der italienisch-französischen Aster-Rakete) stiften ein allgemeines Misstrauen gegenüber europäischen Partnern und fördern eine Renationalisierung ganzer Produktionsketten. 

Auch das Scheitern des Ringtausches“ von sowjetischen Panzermodellen mit deutschen Leopard 2 Panzern zerstört jede Perspektive einer solidarischen Rüstungspolitik in Krisenzeiten. Denken wir mal das Undenkbare: Würde Deutschland im Falle eines russischen Überfalls Polens genug Panzer an sein Nachbarland liefern oder würde es eher die Aufrüstung Bundeswehr bevorzugen? Warschau glaubt, die Antwort zu kennen. Der Leopard 2 ist ein globales Produkt mit zahlreichen europäischen Kunden. Dessen Produktion und Lieferung bleibt jedoch ein bundesdeutsches Anliegen. 

Deutschlands Rolle in der EU-Verteidigung

Deutschlands Rolle sollte darin bestehen, diesen protektionistischen Impulsen entgegenzutreten. Einerseits kann Berlin vertrauensbauende Maßnahmen treffen, die seine Interessen für die EU-Verteidigung und gemeinsame Projekten klarstellt. Die Einhaltung von EU-Beschaffungsregeln im Verteidigungsbereich und Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrechts Versprechen, das deutsche Veto bei gemeinsamen Rüstungsexporten aufzugeben, sind hilfreiche Signale. In Deutschlands Partnerländern wurden unvorhersehbare Exportvetos aus Berlin immer als große Hürde gesehen, die die Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen erschwert. Deutschland sollte sich darum bemühen, eine vorsichtige Rüstungsexportpolitik als allgemeine europäische Leitlinie durchzusetzen. Rüstungsprojekte könnten beispielhaft überdurchschnittlich mit dem European Defence Fund gefördert werden, wenn sie besondere EU-Exportregeln oder Prüfungen des EU-Parlaments unterstehen. Was immer die Lösung sein wird: die finale Entscheidung kann nicht an einem unilateralen Veto Berlins liegen. Es wäre auch wünschenswert, wenn die Nationale Sicherheitsstrategie die EU als allgemeinen Rahmen für die deutsche Beschaffungs- und Rüstungspolitik bezeichnen würde. 

Berlin kann das richtige Gleichgewicht zwischen europäischem Wettbewerb und staatlicher Unterstützung finden. Einerseits kann sich Deutschland für Vertragsformate und Mechanismen einsetzen, die Firmen dazu befähigen, wichtige aber unrentable Investitionen für den Fall einer plötzlichen Nachfragesteigerung zu machen. Anderseits gilt es auch, einen wirksamen europäischen Rüstungsmarkt zu fördern. Die niedrige Mobilität der Arbeitsnehmenden begrenzt den Wettbewerb für die besten Ingenieur:innen und Forschenden. Unternehmen, die hauptsächlich auf nationalen Märkten aktiv sind, sind in der Regel eher klein und produktionstechnisch begrenzt. Der deutsche Markt ist vor allem von mittelständigen Firmen geprägt, mit wenigen Ressourcen für Forschung und Investitionen. Das gilt vor allem bei komplexen Fähigkeiten und strategic enablers wie Weltall- oder Cybertechnologien. Die Internationalisierung der deutschen Mittelstandsunternehmen müsste daher eine Priorität der Industrie werden, wenn Deutschland weiter eine technologische Vorreiterrolle in Europa behalten will. 

Deutschland müsste auch existierende Instrumente der GSVP unterstützen und mainstreamen. Die Bundesrepublik befürwortet zum Beispiel das neue European Defence Fund. Deutsche Unternehmen und Akteure sind jedoch in der ersten Runde der EDF-Projekte erheblich unterrepräsentiert (nur 113 Projektteilnehmer kommen aus Deutschland, im Vergleich zu 178 aus Frankreich, 156 aus Italien und 147 aus Spanien). Konzepte wie die European Defence Capability Consortia (EDCC) zur koordinierten Beschaffung von Waffensystemen müssten von deutschen Vertreter:innen in Brüssel auch stark unterstützt werden.

Kernpunkte:

  1. Die Europäische Union hat industriepolitisch mehr Potential als die NATO. Sie ist besonders geeignet, forschungspolitische Initiativen im Verteidigungsbereich voranzutreiben. 
  2. Berlin muss das richtige Gleichgewicht zwischen wirksamer staatlicher Unterstützung des europäischen Rüstungsmarkts und Förderung des Wettbewerbs finden. Auch, um seine technologische Vorreiterrolle in Europa zu behalten.

Im Allgemeinen gilt: Wachsende Rüstungsausgaben sind bei Wirtschaftskrisen, Inflation und knappen Haushaltressourcen für Wählerinnen und Wähler schwer verkraftbar – und auf manche Probleme des Sektors, wie den anhaltenden Fachkräftemangel, haben einzelne nationale Regierungen kaum Einfluss. Europäische Ansätze zur Rüstungs- und Verteidigungspolitik sind daher unvermeidbar. Vor kurzem haben führende Verteidigungspolitiker:innen der Ampel-Koalition Kristian Klinck, Alexander Müller und Sara Nanni ein Artikel im Spiegel veröffentlicht, in dem sie eine fundamentale Reform des Zusammenspiels von Industrie, Gewerkschaften, Politik und Streitkräften, auf nationaler, aber auch europäischer Ebene“ verlangten. Diese Forderung muss in Zeiten von Verteilungskämpfen Kern der deutschen Beschaffungspolitik werden. Die EU, dessen wirtschaftliche Integration besonders fortgeschritten ist, wäre dafür das optimale Instrument. 


Michelangelo Freyrie

Junior Researcher, Istituto Affari Internazionali

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