Artikel von Michael Meyer-Resende

Demokratie muss zu einem Kerninteresse deutscher Außenpolitik werden

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(European People’s Party /​Flickr)

In Krisen da draußen: Vorbeugen, Entschärfen, Helfen
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Das Thema Demokratie zieht sich wie ein roter Faden durch die großen Herausforderungen für deutsche Außenpolitik. Die Strukturen des Auswärtigen Amtes spiegeln das nicht wider. Höchste Zeit, das zu ändern.

Der sowjetische Dissident Andrei Sacharow bemerkte einmal: Ein Land, dass die Rechte seiner Bürger nicht achtet, wird auch die Rechte seiner Nachbarstaaten verletzen“. Das Auswärtige Amt kommt in seinem Handbuch Krisen verhindern“ zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Darin heißt es: Die Legitimität von Regierungen spielt eine wesentliche Rolle für Frieden und Stabilität“. Das Problem dabei: die Krisenleitlinien handeln von Afghanistan, von Staaten in Afrika, vom westlichen Balkan. Sie handeln nicht von Ländern wie Aserbaidschan, Saudi-Arabien oder dem Iran. Und auch nicht von Russland oder China. 

Damit steht das Handbuch sinnbildlich für das aktuelle Problem der deutschen Außenpolitik. Die Einsicht, dass autoritäre Regime eine Sicherheitsgefahr sind, war vorhanden. Aber sie wurde nicht auf wichtige Handelspartner Deutschlands angewendet. Hier galt weitgehend das Credo Wandel durch Handel“. Das war bequem, denn damit konnte jedes Geschäft mit Diktaturen gerechtfertigt werden – mochten sie deutsche Sicherheitsinteressen noch so sehr gefährden.


» Die Einsicht, dass autoritäre Regime eine Sicherheitsgefahr sind, war vorhanden. Aber sie wurde nicht auf wichtige Handelspartner Deutschlands angewendet. «

— Michael Meyer-Resende

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine werden die Gefährdungen unserer Sicherheit durch die autoritären Großmächte China und Russland breit diskutiert. Sie stechen heraus, sind aber nicht die einzigen Beispiele dafür, dass die innere Verfasstheit von Partnerstaaten einen direkten Einfluss auf unsere Sicherheit hat. Auch autoritäre Regime wie Saudi-Arabien, der Iran oder Syrien stellen offensichtlich ein Sicherheitsproblem für Deutschland dar. 

Kernpunkte:

  1. Autokratisierungstendenzen in Partnerstaaten – gerade auch in bestehenden Demokratien – beeinflussen Deutschlands Sicherheit. Demokratie und Menschenrechte müssen deshalb zu einem Kernanliegen deutscher Außenpolitik werden.
  2. Das Thema Demokratie muss vor allem im Auswärtigen Amt strukturell zentraler abgebildet werden, beispielsweise durch eine eigene Abteilung.
  3. Die Bundesregierung sollte in der Nationalen Sicherheitsstrategie klar ansprechen, dass autoritäre Staaten grundsätzlich gefährliche Konkurrenten sind.

Warnendes Beispiel Ungarn

Weniger breit wird diskutiert, dass auch Autokratisierungstendenzen in bestehenden Demokratien die Sicherheit gefährden – selbst, wenn sie nicht automatisch in der Errichtung harter Diktaturen enden. Ungarn bietet dafür ein gutes Beispiel, vor allem deshalb, weil Deutschland dort viel mehr Einflußmöglichkeiten hatte, als in Nicht-EU-Staaten. 

Die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán untergräbt seit einem Jahrzehnt aktiv die europäische Integration – ein Kernanliegen deutscher Sicherheitspolitik. Die Propagandamaschine der regierenden Fidesz-Partei stellt die EU systematisch als Feind Ungarns dar und das Land legt regelmäßig Vetos gegen gemeinsame EU-Entscheidungen ein. Die Fidesz-Regierung konterkariert auch die europäischen Bemühungen, den Westbalkan zu stabilisieren und hat das Land zu einem Einfallstor für russichen und chinesischen Einfluss in der EU gemacht. Es ist kein Zufall, dass Ungarn und die Türkei als einzige NATO-Staaten den kürzlich beschlossenen Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO nicht ratifiziert haben. Ungarn leistet der Ukraine auch keine Militärhilfe.

Der anti-europäische, prorussische Kurs Ungarns war von Anfang an eng mit Orbáns Autokratisierungsagenda verwoben. Nachdem Fidesz in der Wahl im Jahr 2010 eine überraschende Zweidrittelmehrheit an Stimmen bekam, setzte die neue Regierungspartei innerhalb weniger Monate eine neue Verfassung durch (die nicht durch ein Referendum bestätigt wurde). Damit leitete sie die Aushöhlung der demokratischen Institutionen Ungarns ein. 

Zu wenig, zu spät

Je autoritärer die ungarische Regierung wurde, desto aggressiver wurde auch ihre Außenpolitik. Schon die Wahlen 2014 entsprachen nicht mehr den Verpflichtungen für demokratische Abstimmungen, die sich die Mitgliedsstaaten der OSZE auferlegt haben. Noch im selben Jahr erklärte Orbán Russland und China zu den Stars“ der internationalen Politik und tat kund, dass er Ungarn nicht nach liberalen Prinzipien“ organisieren wolle. 

Die ungarische Regierung scheut sich auch nicht davor, Europas wirtschaftliche Sicherheit zu bedrohen. So blockierte sie 2020 die gesamte Haushaltsplanung der EU, um zu verhindern, dass die Union einen Mechanismus zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit einführte. Der Bundesverband der Deutschen Industrie wies damals in scharfen Worten auf die drohende wirtschaftliche Notlage hin, sollte Ungarn die Haushaltsplanung weiter blockieren. 


» Die deutschen Regierungen unter Kanzlerin Angela Merkel gehörten zu den Bremsern einer entschiedeneren Reaktion der EU auf Ungarns Kurs. «

— Michael Meyer-Resende

Die Bundesregierung hätte schon 2010 viel mehr machen können, um dem Staatsumbau in Ungarn entgegen zu treten. Sie hätte sich nicht nur öffentlich klar positionieren können, sondern sich auch auf EU-Ebene für eine entschiedene Reaktion starkmachen können. Die EU-Maßnahmen gegen die Entwicklungen in Ungarn und später in Polen (beispielsweise der Rechtsstaatsmechanismus, das Verfahren nach Artikel 7 oder Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof) kamen alle zu spät.

Die deutschen Regierungen unter Kanzlerin Angela Merkel gehörten zu den Bremsern einer entschiedeneren Reaktion der EU auf Ungarns Kurs. Vor allem die Unionsparteien wollten Orbán nicht verprellen, mit dessen Fidesz-Partei sie auf europäischer Ebene bis 2021 in der Europäischen Volkspartei verbunden waren. 

Lediglich ungarische und europäische Menschenrechtsgruppen warnten in den entscheidenden ersten Jahren nach den Wahlen 2010 vor dem Staatsumbau in Budapest. Europäische Regierungen und die EU-Behörden blieben derweil stumm. 

Kein außenpolitischer Luxus

Das Beispiel Ungarn zeigt: Demokratie und Menschenrechte sind kein außenpolitischer Luxus. Sie dürfen kein Thema sein, das man in Sonntagsreden beschwört und ansonsten idealistischen Menschenrechtler:innen“ überlässt und ignoriert, wenn andere Interessen vermeintlich schwerer wiegen. Im Gegenteil: Demokratie muss zu einem Kerninteresse der deutschen Außenpolitik werden, weil Diktaturen und autoritäre Regime gefährlich sind. 

Die Wissenschaft bestätigt seit langem, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen und stabiler sind. Bürgerkriege brechen in Demokratien viel seltener aus als in autoritären Systemen. Studien zeigen auch, dass eine gleichberechtigte politische Teilhabe von Frauen das Risiko von inneren Konflikten deutlich reduziert – feministische Außenpolitik und Sicherheitspolitik hängen also zusammen.


» Demokratie muss zu einem Kerninteresse der deutschen Außenpolitik werden, weil Diktaturen und autoritäre Regime gefährlich sind. «

— Michael Meyer-Resende

Das Thema Demokratie zieht sich wie ein roter Faden durch fast alle großen Herausforderungen für die deutsche Außenpolitik: innerhalb der EU (im Umgang mit Polen und Ungarn); bei Fragen der EU-Erweiterung (vor allem hinsichtlich Serbien und der Türkei); in den bilateralen Beziehungen mit entscheidenden Partnern (angesichts der Erfolge anti-demokratischer Parteien in Frankreich, Italien oder den USA); bei zahlreichen Krisen (man denke an die vielen Protestbewegungen von Hongkong bis Belarus); und nicht zuletzt bei der Regulierung des Internets. Das Thema verbirgt sich sogar auch da, wo man es nicht vermutet. Beispiel: Die deutsche Initiative für eine Allianz des Multilateralismus ist auch eine Allianz von Demokratien. 

Demokratie im Amt zentraler abbilden

Was muss geschehen, damit Demokratie endlich ein entscheidender Aspekt deutscher Außenpolitik wird?

Drei Ansatzpunkte bieten sich an: Erstens braucht es konzeptionelle Klarheit. Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit werden in der Außenpolitik oft getrennt behandelt. Sie gehören aber zusammen. Ungarn ist das offensichtlichste Beispiel. Die autoritäre Herrschaft Viktor Orbáns wird nach wie vor nur als Rechtsstaatsproblem behandelt. Sie ist aber spätestents seit den Wahlen 2014 auch ein massives Demokratieproblem. Durch die Fixierung der Debatte auf Fragen der Rechtsstaatlichkeit wurde dieser Tabubruch bisher kaum thematisiert. 

Zweitens sollte die Zukunft der Demokratie im Organisationsaufbau des Auswärtigen Amts als zentrale politische Frage strukturell abgebildet werden. Nein, das Amt soll keine Demokratie-NGO werden – und natürlich muss die Außenpolitik viele Interessen gegeneinander abwägen. Damit bei diesen Abwägungen die innere Verfasstheit von Partnerstaaten aber eine tragende Rolle spielen kann, muss sich eine eigene Abteilung damit befassen, so wie es Abteilungen für Wirtschaft oder Kultur gibt. Andere Außenministerien haben solche Einheiten bereits. Dadurch fließt das Thema Demokratie auf der Leitungsebene immer in die Beratungen ein und wird gleichzeitig mit Detailkenntnis unterfüttert. 


» Mit Demokratie und Menschenrechten kann man im Auswärtigen Amt bisher keine Karriere machen, weil es wenig Nachfrage nach diesem Thema gibt. «

— Michael Meyer-Resende

Ein weiterer wichtiger Punkt: Der Institutionenaufbau beeinflusst Karrierewege. Botschafter:innen und andere Diplomat:innen haben keinen besonderen Anreiz, sich mit der demokratischen Opposition oder Zivilgesellschaft im Gastland zu treffen, wenn sich in Berlin kaum jemand dafür interessiert. Mit Demokratie und Menschenrechten kann man im Auswärtigen Amt bisher keine Karriere machen, weil es wenig Nachfrage nach diesem Thema gibt. 

Verortet wir das Thema Demokratie im Auswärtigen Amt derzeit vor allem bei der Krisenprävention in fragilen Staaten, so als wäre es weit weg. Die Angriffe auf die Demokratie finden aber vor allem auch in bestehenden Demokratien statt. Man stelle sich vor, Demokratie wäre schon vor zehn Jahren als ein deutsches Kerninteresse angesehen worden: die deutsche Reaktion auf Orbáns Staatsumbau in Ungarn wäre viel entschiedener gewesen.

Primat der Sicherheitspolitik

Drittens sollte die Bundesregierung in der Sicherheitsstrategie klar ansprechen, dass autoritäre Staaten grundsätzlich gefährliche Konkurrenten sind. Auch wenn wirtschaftliche Interessen für eine enge Zusammenarbeit sprechen, müssen diese gegen andere Interessen, wie etwa die Sicherheit Deutschlands, abgewogen werden. Vor allem in sensiblen Feldern, wenn es beispielsweise um militärische Güter oder kritische Infrastruktur geht, dürfte in der Regel das Sicherheitsinteresse gegen mehr Verflechtung sprechen. Kurzum, es muss das Primat der (Sicherheits-)Politik gelten.

Das gilt insbesondere für harte Diktaturen, sollte aber auch die politische Haltung gegenüber Regierungen beeinflußen, die einen Autokratisierungskurs verfolgen – besonders dann, wenn sie als EU-Mitglieder auch indirekt in Deutschland mitregieren.

Ein klarer Fokus auf die autoritäre Konkurrenz bedeutet nicht, einen neuen Kalten Krieg anzufangen. Es geht weder darum, die Außenpolitik zu militarisieren noch jegliche Verbindung zu autoritären Staaten zu kappen. Es gibt Probleme, die wir nur mit ihnen lösen können – allen voran den globalen Klimawandel. Deutschland kann auch keinen demokratischen Wandel in anderen Ländern erzwingen. Internationale Versuche einses systematischen nation- oder democracy-building, wie in Afghanistan, haben zurecht einen schlechten Ruf. (Gleichzeitig sollte auch klar sein, dass internationale Stabilisierungsanstrengungen immer auch mit dem Versuch der Demokratisierung einhergehen werden; Auslandseinsätze können nicht dazu dienen, Diktaturen zu stützen.) 

Sehr wohl kann Deutschland Demokratie aber zu einem Angelpunkt seiner Außenpolitik machen und sich entschieden für demokratische Standards einsetzen. Das gilt vor allem auch in den Beziehungen zu Partnerstaaten, bei denen Deutschland mehr Einfluss hat. 

Der in Deutschland übliche Diskussionsrahmen Werte gegen Interessen“ ist falsch. Demokratie und Menschenrechte sind Werte, aber sie sind vor allem auch Interessen. Eine Außenpolitik, die die Gefahren autoritärer Herrschaft ignoriert, widerspricht unserem Interesse an nachhaltiger Sicherheit. 


Michael Meyer-Resende

Geschäftsführer, Democracy Reporting International

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