Artikel von Julian Pawlak

Deutschland als Grundpfeiler europäischer Verteidigung

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In Ertüchtigung daheim: Verteidigung zukunftsfähig gestalten
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Der Ostseeraum ist das Brennglas der angespannten Beziehungen zwischen Russland und der NATO. Als koordinierender Verantwortungsträger sollte die Bundeswehr hier Führung übernehmen. Bestens dafür geeignet: Die Deutsche Marine.

Ein entscheidender Teil der Zeitenwende umfasst die konzeptionelle Neu-Bestimmung der Beziehung zwischen der deutschen Bevölkerung und ihrer Bundeswehr. Die Nationale Sicherheitsstrategie muss dieses Verhältnis aufgreifen, indem sie strategische Ziele, Aufgaben und Pflichten definiert – in Bezug auf die deutsche Gesellschaft, aber auch international, im alliierten Rahmen. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat dieses Rollenverständnis in Ihrer Grundsatzrede jüngst als Nation, als Nachbar, als Demokratie, als Verbündeter“ bezeichnet, um der Verantwortung als Führungsmacht“ gerecht zu werden. Die Bundesrepublik muss im Rahmen des Zeitenwendeprozesses daher eigenständig, aber im Verbund vorangehen, um eine nachhaltige Transformation zu einer strategischen Kultur innerhalb Deutschlands zu ermöglichen. 

Auf dem Weg zum Verantwortungsträger im Ostseeraum

Die notwendige wie klare Ausgestaltung der Rolle von Bundesrepublik und Bundeswehr in der NATO ist besonders vor dem Hintergrund einer Vielzahl an Herausforderungen von Bedeutung. Nach wie vor sind erhebliche Defizite in der Verteidigungsfähigkeit nicht nur Deutschlands, sondern des europäischen Teils der NATO vorhanden. Das betrifft besonders die Anforderungen zur hoch-intensiven Kriegführung, etwa zur Landes- und Bündnisverteidigung auf dem europäischen Kontinent. Die Bundesrepublik hadert darüber hinaus mit einem wachsenden Vertrauensverlust bei ihren internationalen Partnern, was auch auf eine für Außenstehende nicht immer nachvollziehbare Politik zurückzuführen ist. Beispielhaft ist etwa das durchgängige Festhalten der Bundesregierungen an den Nordstream-Pipelines, wodurch Deutschlands ökonomische Interessen vordergründig erschienen. 

Währenddessen fordern Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht deutsche Führungsverantwortung und die Übernahme wesentlicher Kernelemente der konventionellen Verteidigung in Europa. Die Nationale Sicherheitsstrategie bietet die Möglichkeit diese Herausforderungen anzugehen und das Fundament dafür zu legen, dass Deutschland tatsächlich Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa“ werden kann.

Anknüpfungspunkt hierfür ist die Regionalisierung innerhalb der NATO. Das im Sommer 2022 veröffentlichte Strategische Konzept der NATO unterstreicht, dass die Russische Föderation die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität“ darstellt. Spürbar ist dies, abgesehen vom Angriffskrieg gegen die Ukraine, besonders an der Nord-Ost-Flanke des Bündnisses. Der Ostseeraum ist als Verlängerung‘ der transatlantischen Versorgungslinien heute ein strategischer Fokuspunkt der Allianz und seit Jahren Brennglas der angespannten Beziehungen zwischen der NATO und Russland. Der absehbare NATO-Betritt Schwedens und Finnlands sowie die Entwicklung Polens und weiterer mittel- und osteuropäischer Staaten, die ihr sicherheits- und verteidigungspolitisches Gewicht innerhalb der Allianz vergrößern, verstärken die Aufmerksamkeit auf und die Bedeutung der Region und ihrer Anrainer.


» Die Deutsche Marine ist die größte und fähigste unter den Alliierten im Ostseeraum. «

— Julian Pawlak

Neben bereits existierenden Kooperationsformaten bietet sich für die Bundesrepublik ebenda die Möglichkeit, die vom Bundeskanzler geforderte Rolle als verteidigungspolitischer Grundpfeiler im Rahmen des NATO-Bündnisses zu erfüllen. Dies kann gelingen, indem Deutschland mit seiner Nationalen Sicherheitsstrategie aktiv eine Funktion als Verantwortungsträger im Ostseeraum anstrebt. Kritischen Betrachtungen deutscher Sicherheitspolitik zum Trotz, hat die Bundeswehr in den vergangenen Jahren bereits einiges in der Region initiiert und investiert. Als etablierter, geschätzter Akteur ist die Bundeswehr in unterschiedlichen Formaten aktiv. Dazu zählen das militärische Engagement im Baltikum (zum Beispiel im Rahmen des (Verstärkten) Air Policing Baltikum) und besonders die Verbindungen nach Litauen (etwa im Zuge der Enhanced Forward Presence) oder die militärische Verflechtung mit unter anderem Polen und Dänemark im HQ Multinational Corps Northeast. Die Drehscheibe Deutschland‘ ist ferner nicht nur geographisches Zentrum für Truppenverlegungen, sondern beherbergt seit der Aufstellung des Joint Support Enabling Command 2021 in Ulm ganz offiziell ein NATO-Kommando zur Koordination von Truppenbewegungen im europäischen Teil des Allianzgebietes. 

Ein Blick auf das maritime Zentrum der Region zeigt, dass die Deutsche Marine als größte regionale NATO-Seestreitkraft bereits seit Jahren in Form eines koordinierenden Vorreiters in the lead gegangen ist; etwa durch die Initiierung der Baltic Commanders Conference 2015. Deutschland ist zudem schon seit 2009 Rahmennation des Centre of Excellence for Operations in Confined and Shallow Waters in Kiel. Mit der Konsolidierung verschiedener Stäbe zum German Maritime Forces Staff DEU MARFOR hat die Deutsche Marine zudem die Voraussetzungen geschaffen, um die Baltic Maritime Coordination Function der NATO zu übernehmen. Ein Hauptquartier (High Readiness Forces (Maritime) Headquarters; HRF (M) HQ) für maritime Operationen, etwa auch der NATO Response Force, an der Nordflanke. Der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Jan Kaack, unterstrich erst kürzlich, die Deutsche Marine sei bereit, diese Koordinierungs- und Führungsrolle zu übernehmen“.

Unter diesen Voraussetzungen sollte im Kontext der Nationalen Sicherheitsstrategie eine praktische Übersetzung bereits existierender Initiativen und geplanter Maßnahmen in einen Guss“ angestrebt werden. Dafür gilt es konkret, den bisher gelegten Rahmen auszubauen, die eingesetzten Fäden einzelner Engagements zusammenzuführen und daraus ein kohärentes Bild inklusive Verantwortungsrahmen zu formen. Gewinnbringend wäre es daher, an dieser Stelle das von der Bundesrepublik im Jahr 2013 selbst eingebrachte Framework Nations Concept (FNC) inhaltlich auszubauen und öffentlichkeitswirksam hervorzuheben. Durch eine praxistauglich optimierte Außendarstellung kann Deutschland das von der NATO getragene Konzept zur Verdeutlichung des eigenen Engagements nutzen. Orientieren könnte sie sich an dem kühnen Umgang Großbritanniens mit seiner Joint Expeditionary Force, dem britischen FNC-Äquivalent.


» Die Bundesrepublik sollte perspektivisch nicht nur als Drehscheibe und Lead des Clusters Logistik agieren, sondern als Verantwortungsträger im Ostseeraum zur Koordination eigener wie alliierter Aktivitäten an der Nord- und Ostflanke. «

— Julian Pawlak

Als tragende Säule bietet sich dafür die maritime Dimension an. Diese ist nicht bloß physischer Konnex aller Ostseeanrainer, sondern kann als dimensionsübergreifendes Operationsgebiet als Kern der Rahmennation Deutschland dienen. Unterstützung findet dies durch die Tatsache, dass die Deutsche Marine die größte und fähigste unter den Alliierten im Ostseeraum ist. Zwar besitzen zum Beispiel auch Schweden und Finnland fähige Seestreitkräfte. Allerdings sind diese, ähnlich wie die restlichen Anrainer, auf ausgewählte Aufgaben wie die Verteidigung von Küstengebieten ausgerichtet. Zusammengefasst sollte die Bundesrepublik perspektivisch nicht nur als Drehscheibe und Lead des Clusters Logistik agieren, sondern als Verantwortungsträger im Ostseeraum zur Koordination eigener wie alliierter Aktivitäten an der Nord- und Ostflanke. Sie setzt sich auf diese Weise dafür ein, tatsächlich größere Lasten als andere“ zu tragen und Worten Taten folgen zu lassen. Die Nationale Sicherheitsstrategie muss daher festhalten, dass sich Deutschland auf mehreren Ebenen noch deutlich intensiver in die Sicherheits- und Verteidigungsbemühungen im NATO-Kontext allgemein und im Ostseeraum im Speziellen einbringt. Deshalb sollte Deutschland als Verantwortungsträger im Ostseeraum vermehrt auf Anlehnungs‑, Kooperations- und Integrationsmöglichkeiten mit Partnerstaaten bauen. Ein besonderes Augenmerk sollte mitunter auf der Beziehung zu Polen liegen, das Deutschland regelmäßig mit Loyalitätszweifel begegnet und Zaghaftigkeit im Umgang mit Russland vorwirft. Auch hier ist es wichtig, das eigene, unmissverständliche Bündnisengagement zu unterstreichen. Denn ein Blick auf die vergangen Jahre macht deutlich, dass die Bundesrepublik noch so viele sicherheits- und verteidigungspolitische Initiativen starten und begleiten kann –ein ambivalentes Projekt wie Nordstream reicht, um das Vertrauen in Deutschland zu untergraben.

Führung durch Verantwortung

Dies beinhaltet zum Beispiel den Beschaffungssektor, welcher sich nicht auf den NATO-Rahmen begrenzt. Auch auf EU-Ebene werden durch die European Defence Agency und PESCO strukturelle Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Die kürzlich vom Stapel gelassene Kooperation mit Norwegen für die Neubeschaffung zusätzlicher U‑Boote und Seeziel-Flugkörper ist ein positives, praktisches Beispiel der Zusammenarbeit regionaler Partner für regionale Anforderungen. 

Parallel dazu sollte sich der Verantwortungsträger im Ostseeraum deutlich für weitere Anlehnungsmöglichkeiten kleinerer Partnernationen und ihrer Streitkräfte öffnen. Auch hier bieten sich bereits positive Anknüpfungspunkte, etwa durch die Aus- und Weiterbildung internationaler Partner am Ausbildungszentrum U‑Boote der Marine, der Einbindung internationaler Partner in DEU MARFOR, oder die Integration der von Deutschland geführten Battlegroup in die litauische Iron Wolf Brigade. Der Ausweitung auf weitere Militärintegration, wie sie etwa mit niederländischen und britischen Partnern im Rahmen der 1. Panzerdivision bereits durchgeführt wird, ist für die Region Nord-Ost-Europa und die zukünftige verteidigungspolitische Aufstellung von wesentlicher Bedeutung.

Kernpunkte:

  1. Als Drehscheibe für NATO-Operationen hat die Bundeswehr beste Voraussetzungen dafür, den Verantwortungsträger im Ostseeraum zu verkörpern und alliierte Aktivitäten an der Nord- und Ostflanke zu koordinieren. 
  2. Insbesondere die Deutsche Marine ist bereit und geeignet eine Koordinierungs- und Führungsrolle der NATO-Seestreitkraft zu übernehmen. 
  3. Deutschland sollte als Verantwortungsträger im Ostseeraum vermehrt auf Anlehnungs‑, Kooperations- und Integrationsmöglichkeiten mit Partnerstaaten bauen.

Eine Festlegung des Verantwortungsbereiches als Rahmennation hilft ferner, klare Leitlinien festzulegen – für Politik, Streitkräfte und Gesellschaft, aber auch für Partner, die sich praktisch an einem Commitment Deutschlands orientieren können; einem verstärkten, (zusammen-) führenden Engagement, das Partner bereits seit Jahren fordern. Dabei scheint es jedoch besonders im nationalen Diskurs notwendig zu betonen, dass die damit verbundene Führungsrolle keine im hegemonialen Sinne darstellt. Es geht vielmehr um das Verständnis, dass Führung durch Verantwortung sowohl die Region und Partner, aber eben auch ihr Vertrauen in Deutschland stärken kann. Gleichberechtigt mit ihren Partnern sollte die Bundesrepublik also anstreben, in bedachter, abgestimmter Weise in Führung zu gehen, um die europäische wie transatlantische Sicherheit zu stärken. Die Kunst besteht letztlich darin, mehr zu vertreten als die Summe bestehender Engagements: nämlich auch die Absicht jene fortzuführen, zu intensivieren und um zusätzliche Schwerpunkte zu erweitern. Unangefochten sollte vor diesem Hintergrund die Tatsache sein, dass zur nachhaltigen Verwirklichung aller existierenden wie zukünftigen Verpflichtungen die Vollausstattung der Bundeswehr gewährleistet wird. Gelingt all dies, wird Deutschland nicht bloß ein europäischer Grundpfeiler der NATO. Perspektivisch können dadurch die USA und ihre Streitkräfte in Europa entlastet sowie Zweifel an Deutschlands Rolle, Verpflichtung und Pflichtbewusstsein ausgeräumt werden. Alles in allem führt diese Verantwortungsübernahme, erfolgreich umgesetzt, zu einer Erhöhung sowohl der Sicherheit und Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik als auch der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO. Die Nationale Sicherheitsstrategie bietet die Möglichkeit, solch einen Verantwortungsvorstoß anzusetzen. 


Julian Pawlak

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

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