Multilateraler Input: Integrierte Sicherheit muss Gesellschaft und internationale Partner einbinden

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Eine nachhaltige Zeitenwende braucht nicht nur eine Revision der Strategiebildung, sondern auch mehr strategische Re-Vision. Helfen können dabei Perspektivwechsel durch Input von Gesellschaft, Wissenschaft und internationalen Partnern.

An Herausforderungen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik mangelt es kaum: Vor dem Hintergrund einer grundlegenden Zeitenwende” muss die Bundesregierung konkret anstehende Richtungsentscheidungen etwa über das Vorgehen zur Bekämpfung der Klimakatastrophe oder den Umgang mit autokratischen Staaten treffen. Und dies nur wenige Jahre nach dem in Deutschland die Überzeugung vorherrschte, man sei nur von befreundeten Staaten umgeben und könne sich eine threat perception close to zero“ leisten. Die scheinbare Überraschung” über den russischen Angriff auf die Ukraine– von Geheimdiensten, strategischer Vorausschau und individuellen politischen Entscheidungsträger:innen, nicht nur in Deutschland – zeigt deutlich die Notwendigkeit, fundamentale Fragen hinsichtlich der Angemessenheit der eigenen Wahrnehmung der sicherheitspolitischen (Um-)Welt und dem Umgang mit dieser zu stellen. 

Zu einer solchen Re-Vision kann die Nationale Sicherheitsstrategie bereits über den Prozess ihrer Entstehung entscheidend beitragen. Einen ersten Schritt stellt dabei der prominent platzierte Begriff der integrierten Sicherheit“ dar. Er steht für die Erkenntnis, dass Sicherheit weder auf einen vermeintlich harten‘ militärischen Sicherheitsbegriff verengt noch vollständig von diesem entkoppelt werden kann. Die Bedrohungslage reicht von einer breiten Palette an neuen‘ Risikofaktoren – Klima-Katastrophe, Pandemie, Populismus – über ebenso konzeptionell wie praktisch schwer zu fassende hybride Bedrohungen bis hin zu klassischen‘ Großmachtkriegen und Aufrüstungsdynamiken. Die Schwierigkeit besteht also vor allem darin, die Vielzahl der Politikfelder und Baustellen miteinander in Einklang zu bringen, damit das Konzept der integrierten Sicherheit mehr als nur ein Etikett darstellt. Das federführende Team des Auswärtigen Amtes ist deshalb nicht nur auf die Abstimmung mit anderen Fachministerien und dem Bundeskanzleramt angewiesen, sondern holt Meinungen und Anregungen aus unterschiedlichen Richtungen ein: Teil des Strategiebildungsprozesses sind neben Beteiligungsformaten für die Wissenschaft auch Bürger:innendialoge und Konsultationen mit europäischen, transatlantischen und globalen Partnerstaaten.

Kernpunkte:

  1. Strategiebildung für eine multilaterale, integrierte Sicherheit, muss Raum für diverse Perspektiven aus Gesellschaft, Wissenschaft und von internationalen Partnern bieten.
  2. Das System Sicherheitspolitik braucht mehr Freiräume für Entscheidungsträger:innen und Expert:innen um zu reflektieren sowie klare interne Stakeholder für die Berücksichtigung der Multiplizität des Inputs. 
  3. Reflecting teams, red teamings und tiger teams stellen erprobte Ansätze zur Stärkung der Aufnahme- und Reflexionsfähigkeit sicherheitspolitischer Institutionen dar. 

Welchen Input verträgt das System der Sicherheitspolitik? 

Längst besteht mit dem vernetzten Ansatz weitestgehende Einigkeit darüber, dass die Liste der für Sicherheitspolitik relevanten nationalen, internationalen und (zivil-) gesellschaftlichen Akteure mindestens ebenso lang ist wie diejenige der potentiellen Bedrohungen. Hier zeigt sich allerdings ein generelles Problem des Systems Außenpolitik‘: seine begrenzte Aufnahmekapazität. Einerseits leidet die deutsche Außenpolitik […] bis heute an einem strategischen Defizit [und] mehr denn je bedarf sie deshalb intellektueller Begleitung“. Andererseits droht mit eben dieser Begleitung jederzeit die Gefahr der kognitiven Überforderung – nicht individueller Praktiker:innen, sondern des Systems politischer Entscheidungsfindung mit seinen eigenen Logiken und Zeitzwängen. Im Arbeitsalltag der sicherheitspolitischen Entscheidungsträger:innen fehlen Möglichkeiten und Freiräume für interne oder externe Reflexion.


» Ein generelles Problem des ‚Systems Außenpolitik‘: seine begrenzte Aufnahmekapazität. «

— Jens Bartsch & Daniel Jacobi

Dies gilt vor allem, wenn Strategie(-bildung) als ein beständiger Prozess des Erzeugens und Anleitens strategischen Denkens und nicht nur als ein punktuelles (Druck-)Ergebnis verstanden wird. Auf konzeptioneller Ebene legte dies das verteidigungspolitische Weißbuch 2016 bereits vor: Strategie wird als ein komplexes adaptives System“ begriffen, dass in der Lage ist, das Denken in Alternativen und Kontingenzen zu fördern. So ist es möglich, auf neue Herausforderungen ohne Brüche in Form politisch und finanziell kostspieliger Zeiten- und Kehrtwenden zu reagieren. Zentrale Anforderung ist, das Denken und die politischen Entscheidungsprozesse gerade in Krisenzeiten beweglicher [zu] machen”. Übergreifendes Ziel der Nationalen Sicherheitsstrategie und ihres Entstehungsprozesses sollte sein, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik systematisch dabei zu unterstützen, dieses Strategieverständnis auf institutionell-operationeller Ebene zu praktizieren. 

Multilaterales Denken als Blaupause 

Die jüngsten Diskussionen um Panzerlieferungen an die Ukraine zeigen: Die Einbettung in multilaterale Formate und Absprachen („Keine Alleingänge“) steht nach wie vor im Zentrum deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Dass ein Bekenntnis zu multilateralem Vorgehen auch in der Sicherheitsstrategie quer durch die behandelten Politikfelder seinen Platz finden wird, steht außer Frage. Offen ist jedoch, ob das Potential dieses Modells außenpolitischen Handelns konsequent genug genutzt wird. Multilateralismus als Grundlinie deutschen Handels nach außen lässt sich, eine gewisse Abstraktion vorausgesetzt, auch nach innen anwenden: Der Grundgedanke des beständigen Berücksichtigens komplexer Wechselwirkungen in einem Beziehungsgeflecht zwischen drei und mehr gleichberechtigten Partnern ist eine grundlegende aber oft vernachlässigte Rahmenbedingung beinahe allen politischen Handelns – innen wie außen. 

Eine solche breit gedachte Außenpolitik hat das Potential, die Effektivität des eigenen Handelns durch eine integrierende Wirkung zu steigern, indem Einschätzungen verschiedener eigenständiger, auch unbequemer, Akteure zu einem multiperspektiven Lagebild vereinigt werden. Sie kann aber auch integrativ wirken, also verschiedene Akteure einbinden, so den Rückhalt außenpolitischer Entscheidungen erhöhen und Entkoppelungs- und Verunsicherungsprozessen zwischen Bürger:innen und Politik entgegenwirken. 

Multilateraler Input für die Sicherheitsstrategie 

Wie aber könnte multilaterale Strategiebildung aussehen? Konkret bieten sich drei Perspektiven an, die systematisch in die Nationale Sicherheitsstrategie integriert werden sollten: die Erfahrungen internationaler Partner, Positionen EUropäischer Strategiedokumente sowie Beiträge aus Wissenschaft und Gesellschaft. 

Das erste Element lehnt sich eng an klassischen‘ Multilateralismus an: Selbstverständlich sollte sich die Bundesregierung im Rahmen des Lernprozesses einer ersten nationalen Sicherheitsstrategie an Erfahrungen internationaler Partner orientieren. Insbesondere an den, die regelmäßig öffentliche Re-Formulierungen ihrer sicherheitspolitischen Strategien vornehmen, etwa Großbritannien, Finnland oder den USA. Genauso, wie ein norwegisches Weißbuch als Vorbild des Weißbuch Multilateralismus diente. Aber mehr noch als zu den routinierten Strategen sollte die Bundesregierung gerade auch den Kontakt zu denjenigen Partnern und Gesellschaften suchen, die derzeit ebenfalls durch eine Zeitenwende” in ihrer jeweiligen Sicherheitspolitik gehen: seien es Japan mit seiner umstrittenen verteidigungspolitischen Reorientierung oder Schweden und Finnland mit ihren Diskussionen rund um NATO-Beitrittsgesuch und Neutralität. Hier bestehen Chancen, voneinander wertvolle Lektionen im Umgang mit unerwarteten und grundlegenden Brüchen in der Wahrnehmung der jeweiligen Umwelt und der eigenen Rolle darin zu lernen. 

Auch für eine Verknüpfung nationaler und europäischer Strategiebildungsprozesse scheint die Zeit eigentlich denkbar günstig: Nur kurz vor der Nationalen Sicherheitsstrategie wurde mit dem Strategischen Kompass der EU ein europäisches Grundlagendokument erarbeitet. Dennoch scheint es, als ob die Nationale Sicherheitsstrategie in ihrer Positionierung zu sehr auf der nationalen Ebene verhaftet bleibt: Die ehemalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht kündigte die Sicherheitsstrategie als ein Dokument an, das sowohl in Deutschland als auch gegenüber den internationalen Partnern […] mehr Orientierung” biete. Also vor allem deutsches Handeln aus einer deutschen Perspektive nach innen wie nach außen erklären soll – obwohl mit der gemeinsamen Analyse der Welt, in der wir leben” des EU-Kompasses bereits Ansätze einer gemeinschaftlichen Perspektive vorliegen.


» Für eine Verknüpfung nationaler und europäischer Strategiebildungsprozesse scheint die Zeit denkbar günstig. «

— Jens Bartsch & Daniel Jacobi

Jederzeit mit Eingaben, Expertise und Meinungen bereit stehen Wissenschaft und Gesellschaft. Hier besteht das Problem darin, geeignete Formate zu finden, um diesen Input zu kanalisieren und für Entscheidungsträger:innen zugänglich zu machen. Deshalb muss nicht nur Forschung zu den Hintergründen und Wirkungen von Bürger:innenbeteiligungen in der Außenpolitik fortgeführt und vertieft werden. Es braucht auch verstärkte Anstrengungen zu verstehen, wie die Übersetzung von Wissen (und Nicht-Wissen) zwischen weiteren verschiedenen Beobachterperspektiven gelingen kann und welche Faktoren Wissensübertragung in beide Richtungen begünstigen. Offenheit für einen solchen Austausch findet sich bereits in der Science-Diplomacy-Strategie des Auswärtigen Amtes. Doch auch die Wissenschaft ist in der Pflicht ihren Beitrag zu leisten, indem sie ihre Beziehungen zur Praxis‘ noch viel gezielter als bisher zu einem, insbesondere empirischen, Forschungsgegenstand macht und eigene (Kommunikations-)Praktiken hinterfragt. 

Damit aber wären wir auf der Empfängerseite‘ des Inputs – die sicherheitspolitischen Institutionen – wieder bei dem Problem der begrenzten Aufnahmefähigkeit angelangt. Die Frage, ob Planungsstäbe im Auswärtigen Amt, Kanzleramt oder ein nationaler Sicherheitsrat die Aufgabe der Strategiebildung wahrnehmen, erscheint hier zweitrangig. Entscheidend ist, dass die jeweilige Arbeitsebene in der Lage ist, strukturiert mit Eingaben und Erfahrungen umzugehen. Was also ist zu tun, um die Bandbreite für Input und die Rate der produktiven Datenverarbeitung zu erhöhen? 

Institutionelle Innovationen – reflexion teams, tiger teams und red teaming

Drei Instrumente, die sich bei internationalen Partnern und in der systemischen Beratung bewährt haben, können dabei helfen, Raum für Reflexion und das Einsickern lassen‘ von Input zu schaffen: reflecting reams, tiger teams und red teaming.

Das aus der systemischen Beratung stammende Konzept der reflecting teams bietet einen Rahmen, der eine gesteigerte Form der Selbstbeobachtung ermöglicht. Die Struktur eines Teams wird in zwei Teile aufgebrochen oder um ein zweites reflektierendes Team ergänzt. Dieses nimmt an der Beratung teil, ohne einzugreifen. Erst im Abschluss einer Beratungsrunde schließt sich das ganze Team zusammen, gibt seine Beobachtung der Beratungssituation wieder und versucht so mögliche Engführungen sowohl auf der Ebene der sprachlichen als auch organisatorischen Ebene aufzuzeigen und den Auswahlbereich der Möglichkeiten zu erweitern. 

Ein weiteres, jüngst bereits für Deutschland ins Spiel gebrachtes Instrument stellen tiger teams dar, also ad-hoc zusammengestellte Gruppe von Expert:innen verschiedener Ressorts. Anstatt Unstimmigkeiten über den richtigen Ort der formalen Ansiedelung von Nationaler Sicherheitsstrategie oder Sicherheitsrat quasi-öffentlich auszutragen, sollten die entsprechenden Entscheidungsträger:innen hier grundsätzlich mehr Flexibilität wagen. Das gilt auch für die Zusammensetzung derartiger Teams: Zur produktiven Irritation könnten Vertreter:innen von Partnernationen oder aus der Wissenschaft direkt an der Formulierung von Strategiedokumenten oder internen Planspielen mitwirken. Nicht, weil sie über überlegene Expertise verfügen, sondern weil sie oftmals mit ihrem Nicht-Wissen über Interna und Routinen eine (Er-)Klärung des eigenen Handelns erzwingen.


» Zur produktiven Irritation könnten Vertreter:innen von Partnernationen oder aus der Wissenschaft direkt an der Formulierung von Strategiedokumenten oder internen Planspielen mitwirken. «

— Jens Bartsch & Daniel Jacobi

Ein weiterer auf Bewusstsein für Kontingenz und (geistige) Flexibilität abzielender Ansatz ist das read teaming. Dabei nehmen Mitarbeiter:innen die Rolle möglicher Widersacher:innen ein und prüfen das geplante eigene Vorgehen auf Herz und Nieren‘. Red Teams helfen etwa der US Army, bessere Fragen zu stellen, explizite und implizite Annahmen in Frage zu stellen, Informationen aufzudecken, die sonst übersehen werden und Alternativen zu entwickeln, von denen wir vielleicht nicht wussten, dass sie existieren“. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um die Übernahme der Rolle von strategischen Rivalen handeln. Ein Mehrwert besteht auch im Abklopfen‘ der denkbaren Reaktionen von und Wechselwirkungen mit weiteren Akteuren, darunter internationalen Partnern mit sensiblen Positionen, gesellschaftlichen Interessensgruppen oder auch parteiinternen Strömungen. Ganz im Sinne der Sensibilität des Multilateralismus für die Rolle des Dritten. 

Adaptive Kontinuität schaffen 

Zweifelsohne finden derartige Überlegungen bereits tagtäglich auf unterschiedlichsten Ebenen statt. Um dem wichtigen Konzept der integrierten Sicherheit den nötigen Rückhalt zu verleihen, müssen diese Praktiken verstetigt werden und über dezidierte Dienstposten in die standard operating procedure von Auswärtigem Amt, Verteidigungsministerium und Kanzleramt übergehen. Übergreifendes Ziel muss die nachhaltige Stärkung des institutionellen Gedächtnisses zentraler Organisationen wie des Auswärtigen Amtes sein. Dazu zählt insbesondere auch stärkere horizontalen Vernetzung, sowohl intern als auch mit Expert:innen auf der Arbeitsebene anderer Fachministerien. Einen entscheidenden Beitrag zu einer solchen adaptiven Kontinuität kann die angedachte regelmäßige Re-Evaluation der Sicherheitsstrategie liefern, sofern diese institutionell verankert wird. Sonst drohen die gerade erst entstandenen Strukturen ebenso durch Diffusion auf neue Dienstposten verloren zu gehen wie zuvor im Zuge der sektorspezifischen Weißbücher aufgebaute Strategiebildungs-Expertise.

Damit Deutschland der von Bundeskanzler Scholz versprochene Brückenbauer innerhalb der Europäischen Union und […] Verfechter multilateraler Lösungen für globale Probleme“ werden kann, muss die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik für unsere aufs engste vernetzte Welt […] neue Denkweisen und neue Werkzeuge […] entwickeln – genau darum geht es“, so Scholz, in letzter Konsequenz bei der Zeitenwende“. Ein mögliches Werkzeug, um mit der Diversität und Komplexität des Inputs aus eben jener vernetzten Welt“ besser umzugehen, ist das Denken in Alternativen im Sinne eines hier skizzierten komplexen adaptiven Systems der Strategiebildung. Dessen Kern stellt das beständige Berücksichtigen komplexer Wechselwirkungen dar. Die institutionelle Festigung von Praktiken wie red teaming oder die Bildung von reflecting teams und tiger teams kann helfen, die dafür nötige interne Reflexionsfähigkeit und Flexibilität nachhaltig zu erhöhen.


Jens Bartsch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Goethe Universität Frankfurt a.M.

Daniel Jacobi

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Goethe Universität Frankfurt a.M.

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